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auf dem religiösen Gebiete hier der Bruch mit den dogmatischen
Grundlehren und Anschauungen der alten Kirche offen statt-
gefunden hatte. Erst gegen Mitte des XVI. Jahrhunderts hatte
die Renaissance mit ihren neuen Gestaltungen bereits auf allen
Gebieten der bildenden Kunst sich geltend zu machen gewusst
und war insbesondere um diese Zeit auf dem Felde der kirch-
lichen Stickkunst vollständig zur Herrschaft gelangt. Namentlich
trugen die Haute-lissc-Manufacturen zu Arras, die um diese Zeit
ihre Muster und Vorbilder von den angestaunten Malern Italiens
und deren Schülern bezogen, viel dazu bei, dass für kirchliche We-
bereien und Stickereien die Forlnbildungen des neu belebten
griechisch-römischen Styles in Kirchen und Palästen überall Ein-
gang und gute Aufnahme fanden. Wir könnten hier nach vielen
gehabten Anschauungen eine Menge von Kirchen anführen, die
noch heute im Besitze von prachtvollen Kunststickereien aus der
vorliegenden Uebergangsperiode der kirchlichen Nadelrnalerei sich
befinden, an welchen die reiche, äusserst delicate Technik deut-
lieh bekundet, dass den Kunststickern der beginnenden Renaissance
noch jene staunenswerthe manuelle Fertigkeit als Erbtheil über-
kommen war, vermöge deren es den Kunst- und Bildstickern der
ehemaligen burgundisch-tlandrischen Schule möglich war, solche
Nadelmalereien hervorzubringen, wie wir selbige an den hervor-
ragendsten Meisterwerken kirchlicher Stickkunst des Mittelalters,
den Toison-dbr-Geivändern, von denen im Vorhergehenden Rede
war, nicht genug bewundern können. WVenn nun auch an diesen
reichen Goldstickereien von Arras zu kirchlichen Ornaten die
Technik noch lange Zeit hindurch eine in jeder Beziehung vor-
zügliche blieb, so war jedoch aus den Compositionen, den Zeich-
nungen, die diesen Bildwerken zu Grunde gelegt wurden, der
kirchliche Geist und der hierarchische Typus zugleich mit dem
Aufhören der alten traditionellen Formen vollständig gewichen.
Nachdem mit Raffael und vollends aber mit dem spätern Rubens
der Naturalismus in_der Kunst auf den Thron gehoben worden war
und von jetzt ab das natürlich Schöne als das höchste Ziel galt; da
verschwanden auch seit dieser Zeit in der Stickkunst jene ideal ge-
haltenen Gestalten von ascetischen Heiligen, wie sie mit grosser Ge-
fühlstiefe und Innigkeit die mittelalterliche Stickerei in kirchlichen
Ornaten als Nadelrnalereien darzustellen gewusst hatte. Auch das
Pflanzen-Ornament, das in den kirchlichen Stickereien in der be-
ginnenden Renaissance zur Anwendung gekommen ist, verräth
nicht mehr jene Freiheit und Bildungsfähigkeit innerhalb der
durch den Zeitgeschmack allgemein gültigen Schranken, die