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ZUR
GESCHICHTE
DER
KIRCHLICHEN
STICKE-
REIEN
IN
N E UERER
UND
NEUESTER
ZEIT.
Als die Stickkunst sich auf der Höhe ihrer vollen ästheti-
schen und technischen Entwickelung befand, trat, von Italien her-
kommend, allmälig die Anbahnung und der Uebergang zu jenem
neuen Style auch in Deutschland ein, der in Italien durch das
Studium der alten klassischen Bauwerke schon in der Frühzeit der
Medicäer sich allgemeinen Eingang verschafft hatte. Man sprach
und dachte jetzt in den Formen und in der Weise des heidnischen
R0m's und es dauerte nicht lange, so fühlte und empfand man
auch nach Art des alten Hellas und Latiums. Kurz, gleich wie
die gefeierten „Cinquecentisten" im Denken und im Sprechen das
alte Heidenthum mit einigen christlichen Reminiscenzen noch zer-
setzt, wieder aufzuwärmen suchten, so bemühten sich auch, und
nicht vergebens, die Graecomanen und Humanisten diesseit
der Berge, den alten längst abgestorbenen griechischen und rü-
mischen Formen für die Zwecke der Gegenwart wieder neues
Leben einzuhauchen. Die Architektur musste zuerst den fremden
klassischen Zwang auch unter nordischem Himmel sich gefallen las-
sen. Malerei und Sculptur und die übrigen Zweigkünste beeiferten
sich, auf Kosten der überlieferten heimathlichen Formen die
Gesetze und Bildungen des neu aufgekommenen Kunststyles „der
Gelehrten" sich zu eigen zu machen. Auch die Stickerei hatte
angefangen, wie wir früher gesehen haben, sich in der Technik
zu überheben und erlaubte sich in der Composition grossartige
Freiheiten, die zu Ueberstürzungen, Abnormitäten und endlich
zum vollen Bruche mit den langgeübten heimathlichen Bildungen
führen mussten. Um bei dem Wehen des neuen Zeitgeistes vor den
Jlrrungenschaften" der übrigen Künste nicht zurück zu stehen, ver-
suchte auch die Stickkunst bei der gepriesenen ßwiedergeburt" der
Künste ihr Heil in den neu in Schwung gekommenen klassischen For-
men und warf sich, verleitet durch die grosse manuelle Fertigkeit,
die sie sich in jeder Darstellungsweise bei ihren reichen Mitteln er-
worben hatte, der neuen, zum guten Tone gewordenen Kunstweise
bereitwilligst in die Arme. Dieser Einfluss der Renaissance auch auf
dem Gebiete der kirchlichen Stickerei machte sich jedoch in Italien,
dem Geburtslande der neuen Weise, fast 70 Jahre früher geltend,
als das im nördlichen Frankreich, am Rhcinc und im übrigen
Deutschland der Fall war. In Deutschland trat der allmalige
Wechsel des Styles und der Formen erst im zweiten Viertel
des XVI. Jahrhunderts selbstbewusster auf, nachdem vorher auch