297
gewande im mittelalterlichen Schnitte des XV. Jahrhunderts, das
zu der Capelle des goldenen Vliesses als besonders hervorragendes
Stück zu betrachten ist, ist von einer Zartheit und Vollendung
der Technik, so dass man bei genauerer Besichtigung dieser vie-
len, meist unter Baldachinen thronenden Figuren die Ueberzeu-
gung gewinnt: der Bildsticker habe durch seine weiche, gefühl-
volle Ausführung in schimmernden Gold- und Seidenfäden den
Maler mit seinem trockenen Pigment bedeutend übertrofien. Merk-
würdig ist es, dass an dieser reichen Capelle, die wir als die
hervorragendste und vollendetste Stickerei nicht nur des XV.
Jahrhunderts, sondern auch aller vorhergehenden Jahrhunderte
hier zu bezeichnen keinen Anstand nehmen, der eigentliche Um-
stoff als Gewebe bei sämmtlichen einzelnen Piecen fehlt, so (lass
sich Bildwerke an Bildwerke gleichmässig fortsetzen, bloss ge-
trennt durch reichere architektonische Einfassungen baldachinför-
mig in Gold gestickt. Was den Bilderkreis betrifft, womit dieser
Ornat künstlerisch belebt ist, so sei hier noch in Kürze bemerkt,
dass derselbe als ein zusammenhangendes Ganze zu betrachten ist,
und dass wahrscheinlich in diesen kunstreichen Nadelmalereien ver-
treten sein dürfte der ganze Himmel in seinen hervorragendsten
Heiligen, wie dieselben gruppenweise als "coetus" geordnet auch
in den grössern Litaneien aufgeführt werden.
Die Höhe und künstlerische Vollendung in einzelnen Kunst-
zweigen ging im Mittelalter manchmal Hand in Hand mit Üeber-
treibungen und Üeberstürzungen, wodurch eine Oft kaum wahr-
nehmbare Ausartung allmälig herbeigeführt wurde. Mit andern
Worten, die grösste Vervollkommnung in der Kunst war selten
von langer Dauer und zeigten sich, angekommen auf einer ge-
wissen Höhe der ästhetischen Entwickelung, gleich schon die er-
sten Keime der folgenden Ausartung. Wir haben eben in dem
grossartigen liturgischen Ornate, gehörend zu den Ordenskleino-
dien des goldenen Vliesses, den Höhepunkt erkannt, wozu es (ler
Bildsticker, vom befreundeten Maler unterstützt und geleitet, in
der Kunst des Plattstiches bringen kann, wenn er seine Kräfte
nicht überschätzt und nur so weit geht, als es seine technischen
Hülfsmittel erlauben. Will er aber mit seinem Materiale Formen
versuchen, die mit demselben im Widerspruche stehen, so wird
er etwas Naturwidriges und somit auch Unsehönes und Unkünst-
lerisches zu Tage fördern. Solche Versuche, mit der Stickseide
Resultate zu erzielen, die vom Wege ablenken und zu Verirrun-
gen in der Stickerei führen mussten, wurden gerade zu jener Zeit
im grössern Umfange eingeleitet, als die kirchliche Stißkkunst in