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Wir haben oben die Ansicht ausgesprochen, dass gegen
Schluss des Mittelalters in Italien die Malerei vor allen übrigen
Künsten in den Vordergrund getreten sei und auch der Stickerei,
als einer bei weitem untergeordneten Kunst, den Vorrang streitig
gemacht habe. WVir kennen die Gründe nicht hinlänglich, wie es
gekommen sein mag, dass während die Malerei, so hoch geach-
tet, ihre höchste Blüthe in Italien feierte, die Stickkunst, als eben-
bürtige Rivalin, nicht in der Weise in Italien gepflegt und vielfach
geübt wurde, wie das um diese Zeit diesseit der Berge so sehr
der Fall war. Vielleicht mochte die Nadelmalerei für den Al-
targebrauch noch nicht in Italien damals in Zünften und Innun-
gen jene aneifernde Concurrenz hervorgerufen haben, wie ein
solcher edeler Wetteifer um diese Zeit in Deutschland lange schon
bei den Bildstickern ersichtlich war. Ein anderer Grund aber,
weswegen die Stickerei in Italien in der Frühzeit der Medicäer
nicht jene Erfolge erzielte, wie das gegen Schluss des Mittel-
alters in Deutschland und andern Ländern der Fall war, glauben
wir darin zu erkennen, dass die Bildweberei als ein billigerer
Ersatz bei Ausstattung kirchlicher Gewänder in Italien da ein-
trat, wo in Deutschland es Gewohnheit war, reiche Stickereien
anzubringen. In der I. Abtheilung des vorliegenden Werkes, die
ausschliesslich die Geschichte der Weberei zu kirchlichen Zwecken
behandelt, haben wir, auf Seite 61 und die Folge den Nachweis
beizubringen gesucht, dass der Einfluss der Malerschulen und
Malerbuden auf öffentlichen Märkten in Italien sich auch im XIV.
Jahrhundert auf die Seidenweberei ausgedehnt hatte und der Weber
jetzt seine Muster nicht mehr ausschliesslich aus der Pflanzen- und
Thierwelt entlehnte, sondern der Maler, als immer wiederkehrende
Muster, kleinere Scenerieen, der Heiligen- oder Profan-Geschichte
entnommen, dem Wveber an die Hand gab, die in jener bilder-
frohen Zeit an liturgischen und Profan-Gewändern zur Anwen-
dung kamen. Die Leichtigkeit, womit die Kunst der italienischen
WVeber- und Schnürmeister in Seidenstoffen die verschiedenartigsten
Bildwerke wiederzugeben wusste, verleitete auch dazu, dass man na-
mentlich mit dem Beginn des XV. Jahrhunderts, da der Weber auch
technisch alle Schwierigkeiten seines Gewerkes überwunden hatte,
dazu überging, in die Stäbe der Messgewänder, der Pluvialen,
Schwefel gelitten zu haben, und ist darin vielleicht der Grund zu suchen,
dass auf den meisten mittelalterlichen Stickereien die Gesichtstheile fehlen
während die übrigen gesnickten Figuren und Ornamente in andern Farben
sich noch sämmtlich erhalten haben.