254
Anstrengungen und mit Üeberwindung grosser Schwierigkeiten
endlich gelungen war, das Höchste zu erreichen, was auf dem
Gebiete der Bildwirkerei mit jenen Mitteln, die der Stickkunst
zu Gebote standen, zu erstreben war. Die vielen bildlichen Dar-
stellungen auf dem von Urban VIII. geschenkten kostbaren Mess-
Ornate im Dome zu Anagni (vgl. Seite 230 und 231) bethatigen schon
deutlich, welcher Vervollkommnung hinsichtlich der Composition
und technischen Ausführung die Bildstickerei bereits in der früh-
gothischen Epoche fähig war. Das prachtvoll gestickte Antepen-
dium in den Sälen des königl. sächsischen Alterthumsvereins zu
Dresden ist ein sprechender Beweis, welchen weitern Fortschritt
die Stickkunst in der mittlern gothischen Kunstepoche gegen
Schluss des XIV. Jahrhunderts gemacht hatte (vgl. Seite 249-251),
und lässt die letztgenannte vortreffliche Leistung der Bildstickerei
deutlich errathen, dass nach diesen technischen Erfolgen und Errun-
genschaften in der Kunst der Nadehnalerei der Höhepunkt so-
wohl in Composition als auch in technischer Ausführung bald ein-
treten musste. Die Epoche, wo die Stickkunst, geachtet und geehrt
von den übrigen verwandten Schwesterkünsten, diese Höhe in
Rücksicht auf Composition und technische Ausführung erstie-
gen hatte, beginnt vollends mit dem zweiten Viertel des XV.
Jahrhunderts und zwar kommt die kirchliche Stickkunst, wie es
uns auf langjährigen Reisen klar und deutlich geworden ist, nicht
in jenem Lande am Grossartigsten und Würdigsten zur Entfaltung,
wo der romanische Styl am längsten die Traditionen von Alt-Grie-
chenland und Rom beibehalten hat, und die Gothik als ungekannter
Fremdling eingewandert und, oft in missverstandener Weise ange-
wandt, geduldet wurde, sondern ausgedehnte Forschungen haben uns
zur Genüge darauf hingewiesen, dass die kirchliche Nadelmalerei
sich da in ihrer grössten Vollendung zeigt, wo die Spitzbogenkunst,
als in ihrem Geburtslande, entstanden und gross gezogen worden
ist. Gleichwie der fränkisch-germanische Stamm im Nord-WVesten
Europzfs hervorragend in der Architektur sich ausgezeichnet hat,
und auf diesem Boden die grossartigsten Bauten der S itzbo en-
kunst entstanden sind, gleichwie ferner die romanischeih Völker
unter dem schönen Himmel Italiens in der WVand- und Tafelma-
lerei das ganze Mittelalter hindurch Vorzügliches geleistet haben,
so scheint die kirchliche Stickkunst ihre ausgezeichneten Triumphe
und ihre Blüthenzeit im XV. Jahrhundert am Rheine, in Flan-
dern und Burgund vorzugsweise gefeiert zu haben. Bevor wir
im Folgenden in kurzen Umrissen die Blüthenepoche der Stick-
kunst diesseit der Berge des Nähern beleuchten, und das eben