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132-156 zu zeigen versucht, wie die Stickkunst gleich allen übri-
gen Künsten von der Kirche in: Sold und Pfiege genommen, von
der frühesten christlichen Zeit bis zur Regierungsepoche der Ottonen
kümmerlich von den Ueberbleibseln der alten klassischen Kunst sich
ernährte und sich ängstlich nach den Vorbildern zu bilden und zu
entwickeln suchte, die der Orient, namentlißh Byzanz, den bilden-
den Kleinkünstlern des Abendlandes aufgestellt hatte. Wir möch-
ten diese erste Periode der kirchlichen Stickerei als jene Epoche
hinstellen, wo die Kunst des Stickens so zu sagen in den Wvin-
dein lag und ihre Kinderjahre noch durchzumachen hatte. Es ist fer-
ner im Vorhergehenden der Nachweis zu führen versucht wor-
den, wie seit. dem XI. Jahrhundert namentlich in der Bildstickerei
die Fesseln eines stereotypen Byzantinismus, wie auf allen Ge-
bieten der Kunst, so auch auf dem der Stickkunst, gelöst
wurden, und wie der germanische Formentrieb, der schon mit
Schluss des XI. Jahrhunderts sich nach selbstständigen Bildungen
umzuthun suchte, nach und nach mit den alten Formen Byzanz'
zu brechen strebte und dafür neue Gestaltungen, mehr der Natur
nachgeahmt, einsetzte, die zugleich ein Bestreben verrathen, auch in
der Technik eine grüssere Verschiedenheit und Abwechselung ein-
treten zu lassen. WVir haben ferner gesehen, dass dieses unbe-
Wusste Streben nach Individualisirung, das namentlich gegen
Schluss des XII. Jahrhunderts den Künstlern diesseit der Berge
innewohnte, sowohl in der Composition als auch in der stoft-
lichen Ausführung besonders gegen Mitte des XIII. Jahrhunderts
seinen Höhepunkt erreichte. Diesen zweiten Zeitabschnitt der
religiösen Nadelmalerei wollen wir, wenn es gestattet ist, in dem
Entwickelungsgange der Stickerei als die Drang- und Lernperiode,
als das J ünglingsalter der Stickkunst näher bezeichnen. Mit
dem Aufkommen der Grothik hatte, wie wir zu zeigen bemüht
waren, auch für die Stiekkunst eine neue Aera begonnen. Die
Form war eine selbstständigem und naturgemässere geworden, und
auch die Technik hatte eine gewisse Selbstständigkeit und Sicherheit
gewonnen, so dass es namentlich in der Folgezeit der Bildstickerei
möglich geworden war, sich schwierigere Aufgaben zu stellen. Ja,
die manuelle Fertigkeit, die man sich besonders in Darstellung der
Incarnationstheile in feinem Plattstich erworben hatte, gab der
Stickerin den Muth, in ihren Nadelmalereien mit ihrer Lehr-
meisterin und Erzieherin, der Malerei, den Wettstreit aufzuneh-
men. Man könnte deswegen füglieh den Zeitabschnitt von dem
Durchbruche des neuen Styles, der Gothik, als das reifere Mannes-
alter der Stiekkunst bezeichnen, in welcher es derselben nach langen
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