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gischen Bücher durch zahlreiche kleinere Illustrationen zu erläu-
tern und für das Auge sprechend zu machen suchten, gleichwie
ferner die Temperamaler und die denselben untergeordneten Glas-
maler in grössern Bildwerken an den Flügelthüren der Altäre,
den Wandflächen der Kirchen und selbst in den Fenstern den
Gläubigen in ihren die Andacht fördernde Darstellungen ein
oifenes, allen verständliches Buch auiiegten, so suchte die stre-
bensverwandte Stickerei, aufgemuntert durch grossartige Erfolge
befreundeter Schwesterkünste, den Cyclus von biblischen Scenen
und Heiligeniiguren, sogar in der edelsten Technik von schimmern-
der Seide und Gold, auf den priesterlichen Gewändern, auf den
Ornamenten des Altares und der Kirche fortzusetzen. Und in
Wahrheit, wenn man die Leistungen der Stickkunst des XIV.
Jahrhunderts auf grössern Reisen aufmerksamer verfolgt, so muss
man eingestehen, dass die Kunst der freien Nadelarbeit der Ma-
lerei eine würdige Concurrenz entgegengeführt habe, und man
verwundert sich oftmals mit Recht, wie es bereits im XIV. Jahr-
hundert der Nadel der Stickerin gelingen konnte, den Pinsel des
Malers in Schatten zu stellen, obschon die Schwierigkeiten der
Technik weit grösser waren auf dem Gebiete der Stickkunst, als
die, die sich dem Maler mit seinen Pigmenten entgegenstellten.
Die Stickkunst hat sich, wetteifernd mit der Malerei, zu kirch-
liehen Zwecken im XIV. Jahrhundert fortwährend auf der Höhe
gehalten, so lange sie sich ihres Zweckes klar bewusst blieb, die
Mittel in Erwägung zog und mit Vortheil anwandte, die ihr bei der
Concurrenz mit verwandten Schwesterkünsten zu Gebote stan-
den. Als sie aber, wie wir später sehen werden, ihre Kräfte zu
überschätzen anfing und darauf ausging, plastische Eifßcte zu
erzielen, mit andern Worten: als sie im Widerspruche mit ihrem
Zwecke die Gewänder mit Reliefs zu belasten bedacht war und
so zu sagen mit der Sculptur zu wetteifern anfing, musste sie,
selbstverständlich, auf Irrwege gerathen. Die Stickerei war also
in der Epoche, die uns zur Besprechung vorliegt, der Malerei
nacheifernd, in ein neues Stadium für ihre höhere Entwickelung ein-
getreten. Sie stand als eine ernste, geweihte Kunst da, indem sie
sich fortwährend bestrebte, das Höchste für den erhabensten
Zweck zu leisten. Die Nadel war jetzt gleichsam in der Hand
der Stickerin zum Pinsel geworden, den sie auf der Leinwand mit
zarten Seidenfäden leicht hin und her bewegte. Sie malte also so
zu sagen mit Fäden und brachte, statt in trockenen Farben, vermit-
tels leuchtender Seide Kunstgemälde zu Stande, in einem sanften,
ruhigen Tone, die glänzten ohne Reflexe und einen Schimmer
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