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ster Plattstichstickerei darzustellen. So lesen wir im Roman von
Percival, dass sich ein Ritter an der Thilre eines Zeltes zu er-
kennen gibt. Die Dame wollte sich über die Identität des An-
klopfenden Sicherheit verschaffen, holt sein auf ein Gewand ge-
sticktes Portrait, vergleicht es mit dem Originale und überzeugt
sich von der Uebereinstimmung. t) In einem alten provencalischen
Heldenlied liest man, dass der König Floire und seine Familie
wiedererkannt habe in den gestickten Figuren, angefertigt von
seiner Schwester Beatrix auf einem theuern Tuch von Sammetß)
Desgleichen findet sich auch verzeichnet in einem Inventar von
Margaretha von Oesterreich ein grosses gesticktes Tableau, vor-
stellend das Portrait dieser Fürstin nach dem Leben. Da die
Stickkunst bereits im XIV. Jahrhundert sich so schwierige Vor-
lagen stellte und es nicht nur versuchte, auf Priestergewänder
und Ornamente im feinsten Plattstiche Heiligenbilder zu sticken,
deren Composition, Ausdruck und Haltung ein Streben nach
Naturwahrheit bekundet, wie das bei der mehr typischen Darstel-
lung der Figuren der romanischen Epoche nicht der Fall sein konnte ;
da sie ferner sogar auf profanem Gebiete bestrebt war, wie eben
bemerkt, mit Portraitähnlichkeit Figuren nach dem Leben durch
künstliche Nadelarbeiten darzustellen, so lohnt es sich jetzt wohl
der Mühe, die Frage näher in Untersuchung zu ziehen: welche
Aufgabe stellte sich die Stickerei, als sie nach ihrer Emancipation
von den byzantinisirenden typischen Ueberlieferungen figürliche Dar-
stellungen verschiedener Heiligen auf priesterlichen Gewändern durch
Nadelwirkereien zu erzielen suchte. Der Stickerei der vorherge-
gangenen Periode haftete mehr der Charakter der ornamentalen
Kunst an. Nachdem der gothische Styl im XIV. Jahrhundert
im Occident zur allgemeinen Herrschaft gelangt war, verschwan-
den nach und nach in der Stickerei ornamentale Bildungen, ent-
nommen der animalischen oder vegetabilischen Schöpfung, und
architektonisch geformte Baldachine und constructiv gebildete Me-
daillons treten jetzt als Beiwerk auf, um die Hauptsache, sitzende
oder stehende Hciligenfiguren, einzufassen. Die würdige Aufgabe,
die hierbei die Stickkunst sich stellte, war, unseres Dafürhaltens
nach, die Leistungen einer verwandten Kunst, der Malerei, auf
dem Gebiete der gewebten Stoffe zu ersetzen. In gleicher Weise,
wie'die Miniaturisten in leuchtenden Farben den Text der litur-
Roman de Perceval, Ms. suppl. fr. Nr. 340, fol. 87 verso, col. l, V- 22-
Roman de Garin le Loherain, Ms. du fonds de Saint-Germain, Nr. 1244.
foliu XXIX verso, col. 2, v. 26.