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ständige Abbildung dieses letztgedachten Messgewandes zu Rheims
mittheilen.
Die Stickkunst, die, wie im Vorhergehenden zu zeigen ver-
sucht wurde, bereits im XIII. Jahrhundert durch den neu auf-
gekommenen Baustyl, die Gothik, einen scharf ausgeprägten Cha-
rakter und Grundtypus erhalten hatte, {ing an, im Verlaufe des
XIV. Jahrhunderts sich auf der gegebenen Grundlage weiter zu
entwickeln und allmälig eine grössere Selbstständigkeit zu er-
ringen. Namentlich erhalten die figürlichen Darstellungen, was
Composition betrifft, eine grössere, freiere Bewegung, die basirt
ist auf Anschauung der Natur und des Individuums. Allen ligu-
ralen Darstellungen dieser Epoche kann man es deutlich ansehen,
dass das germanische Bildungselement, was die Auffassung kör-
perlicher Formen betrifft, den starren Typus der in der frühern
Epoche herrschenden byzantinischen Traditionen vollständig ver-
drängt hat. Die Kunst der Nadelmalerei brachte um diese Zeit
jene zarten Bildungen zur Erscheinung, in Form von lächelnden
Heiligenbildern, in langgezogener, zuweilen etwas gebogener kör-
perlicher Haltung, wie die Sculptur sie kurze Zeit vorher an
den Vorhallen und Eingängen der Dome zu Rheims, Chartres,
Amiens und in Deutschland an dem Eingange der Elisabethkirche
zu Marburg und an einigen Eingangslauben der Kathedrale zu Bam-
berg als stylbestimmende Modelle für alle Kleinkünste aufgestellt
hatte. Ueberhaupt muss bemerkt werden, dass die Stickerei, was
figurale Darstellungen betrifft, nicht gleichzeitig mit der Malerei
und Seulptur anzusetzen sei; ein langjähriger Vergleich zwischen
der Malerei und der Stickerei, desgleichen hin und wieder vor-
findliche gemalte oder gestickte Jahreszahlen haben uns die volle
Ueberzeugung beigebracht, dass, gleichwie die Architektur als
Grundlage und Grundbedingung allen übrigen Künsten vorange-
gangen und den Weg gebahnt habe, so auch die Malerei, der
Zeitfolge nach, als die Vorgängerin und unmittelbare Lehrerin
der Stickkunst zu betrachten sei, so zwar, dass analoge Meister-
werke der WVandmalerei chronologisch immer wenigstens um ein
Decennium ein höheres Alter beanspruchen können, als das bei
verwandten Leistungen auf dem Gebiete der figuralen Stickerei
der Fall ist. Als eine der hervorragendsten Stickarbeiten, die
die gehobene Kunstthätigkeit im Beginn des XIV. Jahrhunderts
eharakterisiren, verdient vor Allem hervorgehoben zu werden
jenes prachtvolle Purpurgewand, oder jene prachtvolle Kaiser-
Dalmatik, wie sie sich heute noch unter den übrigen Kleinodien
des ehemaligen heil. deutschen römischen Reiches befindßt- ES