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dem vorliegenden liturgischen Gewande symbolisch zu deuten
ist, lassen wir in Frage gestellt sein, Wenngleich die Deutung dieser
Darstellung auf den Ileiland als den mystischen „Löwen vom
Stamme Juda" nicht so fern liegen dürfte-
Bevor wir im Folgenden eingehende Umschau halten, Welche
weitere Entwiekelungsphasen die Stickerei im Dienste des Al-
tares im XII. und im Beginne des XIII. Jahrhunderts durch-
gemacht habe, sei es erlaubt, am Schlusse dieser geschichtlichen
lVfittheilungen über die Erfolge und die Anwendung der Stik-
kerei im XI. Jahrhundert die einleitende Frage zu stellen: 0b
denn in dem kirchlichen Cultus die Anwendung von Stickereien zur
Ausstattung gewebter liturgischer Ürnate im XI. Jahrhundert
grösseres Bedürfniss geworden, und welche liturgische Gebrauchs-
gegenstände und Gewandstücke vornehmlich der Stickerei zur
Ausschmückung und Verzierung überwiesen worden seien? Be-
reits im I. Theile dieses Werkes haben wir an geeigneter Stelle
gezeigt, dass nach Beseitigung der in chiliastischen Vorurtheilen
begründeten Furcht vor dem Untergange der WVelt im Jahre
1000 auf allen Gebieten der Kunst ein neues erhöhetes Leben
und ein lebensfrischer Aufschwung sich zu entwickeln begann.
Die Architektur, die Mutter und Lehrerin aller übrigen Künste,
begann zuerst sich freier zu gestalten und schuf für die an-
dern untergeordneten, mehr ornamentalen Künste die Raume,
wo dieselben, untergeordnet, sich freier und selbstständiger ent-
falten konnten. So erhielt die Sculptur den Auftrag, die Ein-
gänge der Kirche, die Capitäle, die Bogen und WVulste, so wie
die Altar-lWensa, die Ambonen und den Taufstein mit vielge-
staltigen, lehrreichen Figuren zu beleben. Die Malerei wurde
angewiesen, die grossen Vvandfiachen" durch Ornamente und
grössere und kleinere scenerirte Darstellungen, dem Alten und
Neuen Testamente entlehnt, zu einem offenen Buche zu gestal-
ten, für alle diejenigen, die sonst nicht lesen konnten. WVenn
nun den beiden ornamentalen Künsten, Sculptur und Malerei,
die Vorhalle der Kirche, das Langschiff und der Chortheil der-
selben zur Ausschmückung zunächst überwiesen wurden, so war-
es jedoch vornehmlich zweien Künsten vorbehalten, den Altm-
würdig auszustatten, jene hervorragende Stätte, wo das Centrum aller
liturgischen Handlungen, das geheimnissvolle Opfer gefeiert wurde.
Es waren das die Stickerei, in Verbindung mit der WVeberei, und
die Goldschmiedekunst, die unter allen übrigen Künsten den Eh-
renvorzug erhielten, den Altar, die Altargeräthschaften und Gefiisse,
so wie die Gewänder derjenigen kunstreich zu verzieren, die das