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Künstler hinsichtlich der leitenden Idee und der einzuhaltenden Form
angewiesen war, 1) so waren, unserer Ueberzeugung nach, die Stik-
kerinnen im Mittelalter in mehr als einer Beziehung von dem
schaffenden Zeichner, dem Maler abhängig. Denn derselbe hatte
bei umfangreichem scenerirten Stickereien in vielen Farben nicht
nur eine grössere farbige Mustervorlage der ganzen Arbeit an-
zufertigen, sondern er musste auch zuweilen bei schwierigen
Arbeiten mit fester Hand die Umrisse und Sehattirungen selbst
auf die Stiekleinwand hinzeiehnen, nach Welcher mit grösserer
Sicherheit die Stickerin ihre Kunstarbeiten sofort ausführte.
Wir haben selbst sogar alte schadhaft gewordene Stickereien vor-
gefunden, auf deren Unterlage der leitende Componist nicht nur in
scharfen Umrissen seine Figuren vorher gezeichnet, sondern WO
er auch in leichten Farben jene Töne und Sehattirungen hin-
gemalt hatte, die durch die Hand der Stickerin in glänzender
Seide sollten ersetzt werden.
Als zweites hervorragendes Meisterwerk, das sich aus dem
Beginne des XI. Jahrhunderts bis auf unsere Zeiten gerettet
hat, erscheinen jene prachtvollen Messgewänder, die heute noch
dem "vestiarium" des Bamberger Domes als die einzigen Ueber-
reste seines kaiserlichen Gründers zur dauernden Zierde ge-
reichen. Es sind dies nämlich jene drei prächtig in Gold ge-
stickten iigurenreichen Gewänder, die Kaiser Heinrich II., der
Heilige, und seine Gemahlin, die fromme Kunigunde, ihrer
Lieblingsstiftung Bamberg zum Geschenk verehrt haben. Be-
kanntlich war Gisela, die Gemahlin des Königs Stephan von
Ungarn, von der, wie oben gezeigt wurde, der ungarische Kö-
nigsmantel herrührt, eine Tochter HeinricHs des Streitsüchtigen,
Herzogs von Baiern, und somit eine Schwester des Kaisers
Heinrich des Heiligen. Die merkwürdigen Kaisergewänder im
Dome zu Bamberg sind mithin ihrer Entstehungszeit nach als
gleichzeitig mit dem oben beschriebenen Gewande der Königin
Gisela anzusetzen. Zwei dieser Gewänder, die der heil. Kuni-
gunde zugeschrieben werden und die man zu Messgewändern
in Gloekenform ohne Ausschnitt später eingerichtet hat, haben
durch die Unbilden der Zeit so bedeutend gelitten, dass die
eingestickten Dessins schwer noch wiederherzustellen sein dürften.
So fanden wir auf verschiedenen reich gearbeiteten kirchlichen Gefässen
zuweilen den Künstler, der als Componist Idee und Form angegeben haue,
mit dem Ausdrucke „nuctor' benannt, und der ausführende Meister, der
der Idee in Metall Leben verschafft hatte, wurde als „factor" bezeichnet.