124
den durch musivische Ornamente Leben und Sprache zu ver-
leihen. Dieselbe Sucht nach farbigen vielgestaltigen Darstellungen
ermuthigte schon in sehr früher Zeit zu dem Versuche, profane
und religiöse Kleidungsstücke, namentlich aber die Feierkleider
und Prachtgewänder der Opferpriester, Fürsten und Könige durch
eingestickte Ornamente zu bereichern und auszuschmücken. Der
Gebrauch, den Gewändern mittels kunstvoller Stickereien mehr
Ausdruck und Würde zu verleihen, scheint im höchsten Alter-
thume bei den verschiedenen Culturvölkern schon deswegen Anf-
nahme gefunden zu haben, weil es der Weberei in ihrer ersten
Entwiekelungsperiode noch nicht gelingen mochte, durch kunstrei-
ches Einwirken vielfarbiger Dessins dem obengedachten natürlichen
Drange nach vielgestaltiger Abwechselung Vorschub zu leist.en.
Die Muster, die also die Kunst des Webens noch nicht zu
erzielen im Stande war, suchte bereits im höchsten Alterthume
die geschickte Hand durch eingestickte Ornamente, theilweise der
vegetabilischen, theilweise der animalischen Schöpfung entlehnt,
mit der Nadel zu ergänzen,
Schon der alte Homer, um so weit zurück zu greifen, weiss
an vielen Stellen der Ilias Manches von der Kunstfertigkeit zu
erzählen, mit welcher seine Heldinnen der damals schon viel-
fach geübten Technik des Stickens oblagen. Er spricht daselbst
von reichgestickten sydonischen Stoffen, der Kunstarbeit phönici-
scher Frauen; selbst die hervorragendste Grösse seines be-
rühmten Epos, die vielbesungene Helena, zeichnete sich vor allen
Frauen ihres Vaterlandes vornehmlich aus durch die Leichtigkeit,
mit Welcher sie die Kunst des freien Handstickens betrieb. Sogar
die Göttinnen des Olymps verschmähen es nicht, dem Homer zu-
folge, ihre Mussestunden mit Anfertigung kunstreicher Sticke-
reien auszufüllen, 1)
Auch der lateinische Homer, Virgil, spricht an vielen Stellen
seiner "Georgica" und seiner "Aeneis" von kunstreichen Stickereien,
wenn seine desfallsigen Bezeichnungen: „auro intexti", auf Nadel-
arbeiten und nicht auf eingewebte Dessins zu deuten sind. S0
lässt Virgil in seiner Aeneis 2) den Cleanthus als Sieger nach
einem Seetreffen auf's herrlichste bekleidet werden mit einem
kostbaren Mantel, worin die Kunst das Reichste entfaltet hatte,
was in figürlichen scenerirten Darstellungen die geschickte Nadel
der klassischen Heroenzeit erzielen konnte.
L
ß
Ilias, cap. VIII, v. 384;
Aeu. lib. V., v. 250.
ibid.
cßP'
XIV-v
178.