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stellungen gelten daher de1n höhern Geistigen , nicht dem nie-
drigen Sinnlichen; deswegen tritt denn von jetzt ab der mensch-
liche Körper, in seiner Nacktheit der Repräsentant des Sündenfalles,
in den Hintergrund und die christliche Kunst ist seit ihrer Los-
schälung von den Reminiscensen der heidnischen Vorgängerin von
den frühesten Zeiten bis zur Renaissance bemüht gewesen, durch
faltenreiche Gewänder, durch eine schöne Anordnung der Dra-
perie den Körper in seinen niedrigen Theilen möglichst verschwin-
den zu lassen. Mit einem Worte: die christliche Kunst wollte
das Höhere, Geistige im Bilde veranschaulichen; das Körperliche
war ihr dabei stets ein hinderlicher Ballast, dessen sinnlich wir-
kenden Einfluss sie durch Anwendung faltenreicher Gewandstoffe
zu paralysiren suchte. Die bildende Kunst im Mittelalter war
also namentlich auf eine reiche Staffirung der Gewänder, auf
eine künstlerische Anordnung der Gewandmassen angewiesen. Man
nahm daher bei Composition von Heiligenbildern im Mittelalter
weniger zu lebenden Modellen, um körperlich vollendete, schöne
Formen zu erzielen, seine Zuflucht, sondern der Künstler suchte
durch sinnreiehe Anordnung der Gewänder und durch zarte oft
ängstliche Behandlung der Stoffe eine religiös ernste, hierarchische
YVeihe seinen Schöpfungen zu geben. Die bildende Kunst bediente sich
deswegen bei Darstellung von Heiligen meistens jener kostbaren
Stoffe, wie sie in der Kirche an den liturgischen Gewändern an-
gewandt waren. 1) So kleidete man die Engel in Alben, Stolen,
Tunieellen, Pluvialen; Kaiser, Bischöfe, Päpste erscheinen in fal-
tenreichen Pontificalgewändern , die so in Hinsicht der Drapi-
rung gehalten sind, dass man heute noch nicht nur die Art des
Gewebes, das der Künstler im Mittelalter oft in Wirklichkeit vor
Augen hatte , annähernd bestimmen kann, sondern dass auch ein
in etwa geübtes Auge aus den in den Stoffen fast ängstlich nachge-
ahmten Dessins oder Stickereien die Zeit ungefähr angeben kann, wo
die betreffende Sculptur oder Malerei ihr Entstehen gefunden hat.
Bis zum XII. Jahrhundert waren die edeln Stoffe, wie in ei-
nem frühern Capitel ausführlicher zu ersehen ist, meist noch leicht
1) Da Kunst und Künstler im Mittelalter ein streng kirchliches Gepräge hatten
und mit dem Geistlichen in steter Wechselbeziehung standen; da. ferner
Seulptur und Malerei namentlich bis zum XIII. Jahrhundert häufig von den
Geistlichen selbst oder unter deren spccieller Leitung gepflegt wurde, so ist
es sehr erklärlich, dass man zur Darstellung bestimmter Heiligenfigurcn fal-
tenrciche Gewänder aus den Sacristcien entlehnte, um auf diese Weise nicht
nur die richtige Form der kirchlichen Kleidung zu entnehmen , sondern um
auch mit diesen reichen fliessenden Gewändern eine schöne Drapirung ver-
suchen und selbst die darin befindlichen Dessins nachahmen zu können.
x Liturgische Gewänder. 8