Kunst zur
griechische
Die
der
Zeit
Herrschaft.
rölnischen
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bekennen müssen, dass hier nicht immer die eigenthümliche Natur derselben
in gleicher Klarheit und Schärfe erfasst worden ist. In den Figuren des Par- 565
thenon vermögen wir nicht nur die Lage jedes Muskels nach seiner Hauptrich-
tung und Spannung zu erkennen; sondern es scheidet sich auch trotz der
feinsten und zartesten Uebergänge dennoch jede Form in ihren Umrissen und
Begrenzungen von der anderen, so dass wir auch unter der Hülle der Haut die
Scheidelinie wahrzunehmen glauben. Die grösseren Hauptformen und Linien
ferner werden wir in viele kleinere zerlegen können, die jede für sich das
Wesen der grösseren auch in seinen feinsten Beziehungen erkennen lassen.
Der Künstler des Torso hat sich überall mit geringerem Detail begnügt und das-
selbe in weniger scharfer und präciser Fassung dargestellt. Die Umrisse der
Formen stossen nie in bestimmten Linien zusammen, sondern verlieren sich
in einer Verbindungsfläche und müssen dadurch nothwendig etwas verwaschen
erscheinen. Eben so ist die Lage der Muskeln wohl im Allgemeinen richtig
angegeben; aber wir vermögen nicht die besondere Art der Spannung, man
möchte sagen, die individuelle Natur des Muskels zu erkennen. Darum fehlt
trotz der kräftigen Fülle in der Anlage doch den Muskeln die Elasticitat, auf
welcher erst die Möglichkeit einer grossen Kraftentwickelung beruht; und der-
jenigen Anspannung, durch welche diese Formen zur Fülle ihrer Entwickelung
gelangt sind, erscheinen sie in ihrer jetzigen von Gedunsenheit nicht sehr ent-
fernten Weichheit nicht mehr fähig. Das Verhältniss des Künstlers wird sich
hiernach leicht bestimmen lassen. Die ältere Kunst hatte ihm eine Reihe von
Musterbildern überliefert, die von Leben und Kraft in vollster Frische durch-
glüht waren; er strebte, dieselben Verdienste in sein eigenes Werk zu über-
tragen; aber den alten Formen das alte Leben einzuhauchen war er nicht mehr
im Stande. Ihm, wie seiner ganzen Zeit, war das unmittelbare Verständniss
der Natur nicht mehr gegeben. Anstatt aber ihm daraus einen Vorwurf zu
machen, müssen wir es ihm vielmehr zum Verdienst anrechnen, dass er sich
über diese geringere Befähigung keinen Täuschungen hingegeben hat. Gleich
entfernt davon, durch Schwulst und Uebertreibung die mangelnde Kraft ersetzen
zu wollen, wie davon, durch ein knechtisches Nachahmen aller Einzelnheiten
früherer Muster oder auch der Natur seine künstlerische Selbständigkeit zu
opfern, hat er mit richtiger Würdigung des Maasses seiner Kräfte sich beschränkt, 566
vor Allem die Grundverhaltnisse und die Massen in richtiger Anlage wiederzu-
geben, und im Einzelnen möglichst anspruchslos nur das vorzutragen, worüber
er sich selbst ein klares Verständniss verschafft hatte. So steht für uns der
Torso als ein durchaus abgerundetes und, wir können sogar sagen, vollkom-
menes Werk da, sofern wir nur nicht ein höheres Verdienst darin suchen, als
der Künstler selbst ihm hat beilegen wollen. Wenn wir nun aber die Ansicht
Winckelmanns nicht mehr theilen können, der darin überhaupt das Höchste
der Kunst zu erblicken glaubte so dürfen wir, denen es vergönnt ist, das Voll-
kommenere mit eigenen Augen zu schauen, ihm aus seiner Begeisterung keines-
wegs einen Vorwurf machen, sondern müssen ihn vielmehr bewundern, dass
er auch in den Nachklängen einer höheren Schönheit von dieser selbst schon
eine Vorahnung gehabt hat.
Diese Bemerkung findet ihre Anwendung nicht weniger auf das Urtheil