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Bildhauer.
495 Schöpfungskraft, an Unmittelbarkeit der künstlerischen Auffassung den Meistern
älterer Zeit entschieden nach, so wird doch der Mangel dieser Eigenschaften,
wenn auch nicht durchaus gehoben, doch bedeutend gemildert durch ein ge-
waltiges, auf den umfassendsten Studien beruhendes künstlerisches YVissen.
Auf der Anerkennung dieser Eigenschaft beruht aber in letzter Instanz auch
die Entscheidung über die Entstehungszeit der Gruppe. Sie erklärt sich nicht
nur in der Zeit der Diadochen, sondern sie erscheint geradezu als das natur-
gemässe, nothwendige Resultat, als die Frucht aller früheren Entwickelungs-
stufen. In der römischen Kaiserzeit würde sie eine Anomalie, wenn nicht ge-
radezu unerklärlich sein. KVer die Gruppe in diese späte Zeit versetzen will,
dem liegt es 0b, diese Schwierigkeit zu lösen und thatsächlich nachzuweisen,
dass damals wenigstens Aehnliches in Technik, in Form, in Gomposition und
Erfindung geleistet werden ist. Halten wir uns zunächst an dasjenige, was, wie
wir später sehen werden, uns die Künstlergeschichte lehrt, so lüsst sich kühn
die Behauptung wagen, dass etwas Aehnliches damals nicht einmal versucht
worden ist. Dagegen hat uns das Geschick, welches uns hinsichtlich der posi-
tiven Zeugnisse über die Zeit des Laokoon so kärglich bedacht hat, noch ein
anderes Werk der rhodischen Schule in der alexandrinischen Epoche erhalten,
welches als demselben Geiste, derselben Kunstrichtung entsprossen anerkannt
werden muss und daher als eine schlagende Analogie auch für die Erörterungen
über den Laokoon von hoher Wichtigkeit ist, nemlich die unter dem Namen
des farnesischen Stiers bekannte Marmorgruppe im Museum von Neapel.
Plinius 1) führt sie unter den Werken im Besitze des Asinius Pollio mit folgenden
WVorten an: „Zethos und Amphion und Dirke und der Stier nebst dem Tau
aus demselben Blocke, von Rhodos nach Rom versetzte Werke des Apollonios
und Tauriskos." Hier ist also die Frage nach der etwaigen Entstehung des
Werkes in der römischen Zeit von vorn herein abgeschnitten: denn es befand
sich bereits in der augusteischen Epoche in Rom, nachdem es schon früher
in Rhodos aufgestellt gewesen war.
Es würde gewiss lehrreich sein, die Analogie des Stieres mit dem Laokoon
496 bis in die Einzelnheiten der Technik und der formellen Behandlung zu ver-
folgen. Doch würde dazu eine wiederholte Prüfung des XVerkes selbst nöthig
sein. Winckelmann, der hierauf noch am meisten eingeht 2), lobt Einzelnes
sehr, die grosse Freiheit und Fertigkeit des Meissels in Nebensachen, wie der
Cista, die Antiope und die sitzende Nebenfigur, deren Kopf er dem Styl nach
mit dem der Söhne des Laokoon vergleicht. Ganz damit übereinstimmend
lautete das von Winckelmann durchaus unabhängige Urtheil eines mit feinem
Kunstsinn begabten Freundes, welcher, anfangs durch die vielfachen Restau-
rationen etwas abgestossen, doch später seine Ansicht dahin aussprach, dass
in den erhaltenen Theilen, wie namentlich dem sitzenden Knaben, die Gruppe
in Hinsicht auf Durchführung sich mit dem Besten messen könne, was wir in
dieser Gattung; griechischer Sculptur besitzen. Blicken wir jetzt auf Grup-
pirung und Gomposition des Ganzen, so verräth sich die Analogie mit dem
Laokoon schon in der Weise, wie Plinius beide Gruppen erwähnt: das Auf-
Werke