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Bildhauer.
Analyse, und werden nun um so eher im Stande sein, das Einzelne zu einem
Gesammturtheile zusammenzufassen und dem Werke in der Entwickelungsge-
schichte der griechischen Kunst eine bestimmtere Stelle anzuweisen. Schon
in der bisherigen Erörterung mussten wir zuweilen einen Seitenhlick auf frühere
Perioden der Kunst werfen, und ich will es nicht leugnen, dass fortwährend
eine stillschweigende Rücksicht auf diese zur Vorsicht gemahnt und die Auf-
merksamkeit geschärft hat. Was die Zeit des Phidias geleistet, ist als das
Höchste, was überhaupt die Kunst erreicht, allgemein anerkannt. Diese Er-
kenntniss bildet also den festen, unverrückbaren Punkt, nach welchem sich das
Urtheil über alles Frühere und Spätere bestimmen muss. Wenn dieses dadurch
freilich in einem minder günstigen Lichte und weniger vollkommen erscheint,
so wird doch auf diese Weise unser Urtheil minderen Schwankungen ausge-
setzt sein, und wir dürfen, was sich uns als vorzüglich innerhalb gewisser
Grenzen bewährt, mit um so ruhigerem Bewusstsein und um so freudiger an-
erkennen.
Die ganze Entwickelung der griechischen Kunst von der Zeit des Phidias
abwärts besteht in einer Erweiterung der damals festgestellten Grenzen, welche
von einem Mittelpunkte ausgehend nach verschiedenen Richtungen und selbst
nach entgegengesetzten Endpunkten zustrebte. Was wir nun am Laokoon be-
obachtet haben, ist nichts, als ein weiterer consequenter Schritt auf dieser
Bahn, freilich nicht ein Schritt aufwärts, sondern abwärts. Allein dies lag in
der Natur der Dinge. Denn hatte man einmal angefangen, seinen Ruhm in
ein Ueberbieten des Vorhergehenden zu setzen, so blieb den Nachfolgenden
kaum etwas anderes übrig, als ihr Glück auf demselben Wege so lange zu ver-
suchen, bis man am Ziele des Möglichen angelangt War, und nothwendig eine
Reaction eintreten musste. Neues wird stets wenigstens die grosse Masse über-
raschen und anziehen, und um so mehr da, wo Maassvolles Gewaltigerem
Platz macht. Eine solche Potenzirung, vielleicht die höchste der griechischen
Kunst, spricht sich in allen Theilen des Laokoon aus, und es ist daher kein
Wunder, wenn ein Beurtheiler von so geringem künstlerischen Gefühle, wie
Plinius, gerade dieses Werk für das Höchste erklären will, was die Kunst ge-
493 leistet. Die ausübenden Künstler der besten römischen Zeit scheinen anders
gefühlt zu haben. Denn, wie mich dünkt, zeigt sich gerade deshalb, weil in
diesem und ähnlichen Werken die Grenze des Möglichen erreicht War, sofort
mit dem Uebersiedeln der griechischen Kunst nach Rom eine umfangreiche,
aber in vieler Hinsicht völlig naturgemässe Reaction.
In der Technik hatten gewiss die Früheren durch lange Uebung geleistet,
was selbst der verfeinertste Kunstgeschmack zu fordern vermochte. Dennoch
gelang es den rhodischen Künstlern, ihre Vorgänger noch zu überbieten, da-
durch dass sie die Kunst der Technik zu derjenigen Virtuosität ausbildeten,
welche eine bestimmte Wirkung gerade durch Beschränkung auf wenige Mittel,
aber durch eine um so sicherere Handhabung derselben zu erreichen Weiss. Auf
diese Weise aber geschieht es, dass die Technik, während sie früher nie auf-
gehört hatte, Mittel zu höheren Zwecken zu sein, jetzt Ansprüche auf selbst-
ständige Geltung erheben muss, welche dem echten Kunstwerke fremd sind.
Ebenso verhält es sich mit der Behandlung der Form. Noch Aristoteles scheint