Kunst
Diadochenperiode
Zerstörung
Korinths.
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als am Barte, in eine Menge kleiner zerrissener Partien. Eben so sind im
Gesicht alle grösseren Flächen, wie Stirn und YVangen, durch das Hervortreten
der einzelnen Muskeln zerrissen, und die Anspannung derselben ist an einigen
Stellen so gewaltig, dass es unmöglich wird, sich von den darunter liegenden
festen Theilen des Knochengerüstes genügende Rechenschaft zu geben. Wem
das eben Gesagte zu stark erscheinen sollte, der mag sich durch eine Be-
trachtung der Gruppe bei F ackelschein von der Richtigkeit überzeugen. Bei
einer Stärke der Beleuchtung, welche die Gruppe in ihrer Gesammtheit in das
vortheilhafteste Licht setzt, tritt uns diese Zerrissenheit mit solcher Bestimmt-
heit entgegen, dass niemand sie wird leugnen können, und doch wird sie durch
das besondere Licht nicht etwa an sich verstärkt, sondern nur durch die Ab-
geschlossenheit, welche ein Abschweifen des Auges verhindert, selbst für den 488
minder geübten Blick fasslicher. Setzen wir dagegen den Kopf in die grellste
Beleuchtung, so wird sich plötzlich zu unserem Erstaunen eine plastische Ruhe
jener Art zeigen, wie wir sie sonst als das Kennzeichen griechischer Kunst-
schöpfungen älterer Zeit hinzustellen gewohnt sind. In diesem Lichte ver-
schwinden aber die meisten der wirklich im Marmor ausgedrückten Einzeln-
heiten, sie werden vom Lichte gewissermassen aufgezehrt, und es bleiben dem
Auge nur die einfachsten und wesentlichsten Grundformen erkennbar.
Wenn nun die ursprüngliche, allgemein geistige Anlage des Menschen,
rd Er xai iiäya Üäog nach Aristoteles, sich vorzugsweise in den festen, un-
veränderlichen Theilen des Kopfes, in der Schädelbildung ausspricht, so muss
die detaillirte Ausführung von Formen, welche nur in der höchsten Anspannung
des gesammten Organismus zur Erscheinung kommen, mit Nothwendigkeit zu
einer der ethischen entgegengesetzten Darstellungsweise führen. Und so ist
denn in der That der Ausdruck dieses Kopfes auf das höchste Pathos berechnet,
ein Pathos der heftigsten, momentansten Art. Die Natur des dargestellten
Gegenstandes scheint ein solches zu verlangen. Bis zu welchen Grenzen aber
dieses überhaupt in der Kunst zulässig sei, wie sich zu diesen Grenzen der
Ausdruck des Laokoon verhalte, darüber sind die Meinungen selbst der aus-
gezeichnetsten Beurtheiler fortwährend schwankend gewesen, so sehr auch der
Grundton fast aller Urtheile hinsichtlich des Laokoon der einer grossen Be-
wunderung gewesen ist. Allein wenn wir nun finden, dass diese Bewunderung
bei verschiedenen auf fast Widersprechendes gerichtet ist, sollen wir dann noch
in dieselbe unbedingt einstimmen? Bliebe die YVahl nur zwischen zwei Ex-
tremen, zwischen unbedingter Bewunderung und unbedingter Verdamrnung, so
würde ich allerdings lieber die Rolle des Anklägers, als die des Vertheidigers
übernehmen. Doch werden wir zuletzt erkennen, dass uns noch ein Mittelweg
übrig bleibt, nemlich die Beurtheilung von einem relativen, dem historischen
Standpunkte aus.
Ein Theil der Lobsprüche ist mehr negativer Art und bezieht sich auf
die Grenzen der Kunst, welche zu überschreiten die Künstler durch den Gegen-
stand in Gefahr gerathen mussten, dadurch nemlich, dass sie den Schmerz
wegen seiner Heftigkeit, und weil er in seinen nächsten Motiven ein körper- 489
licher war, auch rein als einen solchen erfassen konnten, ohne Rücksicht auf
den geistigen Adel, welchen Laokoon wegen seiner edeln Abkunft und als