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Bildhauer.
Meisselstriche als einzelne schmale Flächen auf einander stossen. Aus ihrer
Vereinigung wird sich aber "begreiflicher Weise schwerer eine einheitliche, fein
geschwungene Linie bilden, als wenn diese selbständig in einem fortlaufenden
Zuge über diese schmalen Flächen hinweggezogen und ihre Schärfe höchstens
durch Feilen und Schleifen gemildert wird. Es mag materiell erscheinen, bei
der Prüfung eines Werkes, wie der Laokoon ist, einen scheinbar so kleinlichen
Maassstab anzulegen. Beginnen wir nun aber die Betrachtung von Neuem, so
werden wir uns des Grundes bewusst werden, weshalb überall, wo Flächen
durch mehr oder minder scharfeiLinien zu begrenzen waren, eine gewisse
Stumpfheit und Trockenheit herrscht, welche daraus entsteht, dass eben diesen
Begrenzungen keine selbständige Bedeutung beigelegt und deshalb der Strich
des Meissels nirgends ins Feine verarbeitet ist. Wir werden uns ferner klar
werden über die Eigenthümlichkeit in der Behandlung der Flächen (der einzelnen
Flächen nemlich im Gegensätze der sie umgrenzenden Linien, nicht der Massen
im Allgemeinen). Wir sehen, wie der Künstler alles Andere der Darstellung
der Muskeln als derjenigen Theile, welche den ganzen Mechanismus des Körpers
in Bewegung setzen, aufgeopfert hat. Vor Allem sollen wir jeden Muskel in
seiner besonderen Wirksamkeit erkennen; und in diesem Streben ist dem
Künstler die gewählte Technik allerdings von wesentlichem Nutzen gewesen,
da schon der Meisselstrich das aufmerksame Auge darüber zu belehren vermag,
in welcher Richtung sich die Thätigkeit des Muskels äussert. Aber diese Deut-
lichkeit und Verständlichkeit ist doch nur ein erstes Erforderniss: wäre sie das
einzige, so würde ein anatomisches Präparat noch besser diesem Zwecke ent-
481 sprechen. Ja schon ein zu einseitiges Streben danach würde einem Kunstwerke
mehr zum Tadel als zum Lobe gereichen müssen, da es die einzelnen Theile
auf Kosten des Ganzen bevorzugen, und trotz aller Deutlichkeit das Auge,
welches eine Gesammtwirkung" sucht, doch zuletzt durch zu viele Einzelnheiten
verwirren würde. Denn welcher Art auch die Bewegung sei, in der Natur sehen
wir selten einen Theil, einen Muskel in seiner Vereinzelung wirken: immer
wird er zu mehreren anderen in naher Wechselbeziehung stehen und daher
auch äusserlich sich mit ihnen einem grösseren Ganzen unterordnen. Selbst
da aber, wo ein Muskel vor allen anderen bedeutend hervortritt, erscheint er
wenigstens auf der Oberfläche nicht in völliger Absonderung. Immer ist er in
der Natur noch mit einer Hülle, der Haut, umgeben, und ausserdem lagern
zwischen dieser und den Muskeln fast überall mehr oder weniger bedeutende
Fetttheile. Gerade diese aber sind es, welche stets das Einzelne zu grösseren
Massen zusammenfassen, scharte Uebergänge und Absätze vermitteln und uns
so zuletzt die Wirksamkeit der einzelnen Muskeln mehr ahnen, als materiell
erkennen lassen. Wo sie daher in einem Kunstwerke unberücksichtigt bleiben,
wird es immer zum Nachtheile des Ganzen ausschlagen müssen. Dass es aber
in der That beim Laokoon der Fall gewesen, werden wir nicht ableugnen dürfen.
Sprechen wir es nur aus: trotz aller Meisterschaft, trotz der gewaltigen An-
spannung aller Formen tritt uns doch in der Behandlung der Flächen und ihrer
Verbindung eine gewisse Magerkeit und Trockenheit entgegen. Es fehlt die
Weichheit, es fehlen die feineren Uelaergänge, durch welche die Natur auch
bei heftigen Bewegungen die Gegensätze im Einzelnen zu vermitteln nie unter-