Kunst der Diadochenperiode
Zerstörung Korinths.
317
der Race, sei es dass sie auf äussere Verhältnisse, Klima, Lebensweise u. a.
zurückzuführen sind, haben ihre bestimmte Regel: denn die Natur wirkt im
Ganzen auch auf das ganze Volk gleichartig. Indem nun der Künstler aus
den einzelnen Erscheinungen diese Regel abstrahirte, durfte er von dem Streben
nach absolut schönen Formen abgehen. Denn das minder Vollkommene ordnete
sich einer neuen einheitlichen Idee unter: es verleiht dem Werke die Schön-
heit des Charakters, der historischen Wahrheit.
Ich fürchte nicht, dass man hier andere Barbarenbildungen, etwa von der
Art, wie die von Göttling Thusnelda genannte Statue, zur Vergleichung herbei-
ziehen werde, um aus ihnen den Vorwurf für den Künstler der Gallier her-
zuleiten, dass er sich zur Erreichung seines Zweckes einer zu grossen Menge
an sich unschöner Einzelnheiten bedient habe. An jener sogenannten Thus-
nelda findet sich von denselben freilich kaum eine Spur, und doch tritt an ihr
der Barbarencharakter in voller Klarheit und Deutlichkeit zu Tage. Niemand
wird sich überreden lassen, dass bei ihrer Bildung den Künstler vorwiegend
Kritik und Reflexion geleitet haben. Aber sie wirklich für eine Thusnelda, das
Bild gerade dieser oder überhaupt nur einer einzelnen bestimmten Person zu
halten, hindert uns nach meiner Meinung eben dieser Mangel einer individuellen
Durchbildung des Einzelnen. Sie steht vielmehr da als das Urbild für viele,
ja für alle Frauen ihrer Nation, als ein frei aus einer Idee erschaffenes Werk;
und soll ihr einmal ein Name ertheilt werden, so entspricht offenbar ihrem
WVesen am besten: Germania devicta. So bedarf die Behandlung in den ein-
fachsten und allgemeinsten, in den idealen Formen keiner Rechtfertigung mehr;
aber auch der Künstler der Gallier ist gerechtfertigt. Denn seine Aufgabe war
eine gänzlich verschiedene: er sollte nicht Gallien, die Nation, er sollte Gallier
in einer bestimmten Handlung bilden; und hierzu blieb ihm nur der XVeg,
welchen er gewählt: die gewissenhafte Beobachtung und Auswahl des Details,
so weit es zur Charakteristik nothwendig war. Betrachten wir nun nach Fest-
stellung dieses Gesichtspunktes nochmals die Eigenthümlichkeiten dieser Werke,
so wird sich uns manches, was vielleicht blos Folge technischer Handgriffe, oder
gar eine ungehörige Scharfe und Härte schien, als mit der klarsten Absicht,
mit dem bestimmtesten Bewusstsein gerade so, wie es ist, behandelt offenbaren;
und was als ein Mangel erschien, werden wir gerade als ein eigenthümliches
Verdienst erkennen.
Wir haben uns bis jetzt nur mit der Gestalt und den Formen des Kör-
pers beschäftigt. Bei einem Barbaren wird aber, selbst wenn wir von der be-
sonderen Handlung absehen, der ganze Charakter und geistige Ausdruck in
einem bestimmten Gegensatze zum Griechenthunie stehen. Wir haben daher
zu untersuchen, worin derselbe besteht, und in welcher Weise ihn der Künstler
aufgefasst hat.
Winckelmann sagt in der bekannten Stelle, wo er als das vorzüglichste
Kennzeichen der griechischen Kunst eine edle Einfalt und stille Grösse, sowohl
in der Stellung als im Ausdruck erkennen will: „S0 wie die Tiefe des Meeres
allezeit ruhig' bleibt, die Oberfläche mag auch noch so wüthen, eben so zeigt
der Ausdruck von den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine grosse
gesetzte Seele." Dieses Gleichniss möchte man, wenn es eine Anwendung auf