Bildhauer.
bis tief in den Nacken herabgewachsen. Endlich zeigt der Kopf, in welchem
der Barbarencharakter allerdings am bestimmtesten seinen Ausdruck finden
musste, einen von dem griechischen gänzlich verschiedenen Organismus. Denn
eben die Grundverhältnisse der Theile zu einander, Welche in dem rein grie-
chischen Typus durch ihre strenge, man kann sagen mathematische Regel-
mässigkeit dem vollendeten Ideale so nahe verwandt sind, erscheinen hier durcl1-
aus verändert; und wir können nicht läugnen, dass gerade in denjenigen Formen,
in Welchen das geistige Wesen vorzugsweise seinen Ausdruck findet, diehar-
monische Entfaltung der Linien häufig gestört ist, Während dagegen weniger
edle Theile eine hervorragende Geltung erhalten haben.
Fragen wir uns nun, 0b alle diese Formen das sind, was wir unter schönen
452 Formen zu verstehen pflegen, so kann die Antwort nur verneinend ausfallen.
Eine schwielichte Hand, ein Fuss mit harter, schwielichter Haut, struppiges
Haar, derbe, unedle Gesichtszüge können wenigstens nicht für besondere Schön-
heiten gelten. Dennoch aber hat der Künstler gerade diese Züge der Natur
mit Sorgfalt und auf das Feinste abgelauscht, und jede Einzelnheit mit vollem
Bewusstsein dem Marmor eingeprägt. Hier lag nun für den Künstler allerdings
eine gefährliche Klippe verborgen, nemlich in groben Naturalismus zu verfallen
und uns die Hässlichkeit und Rohheit der Barbarenbildung in voller Nackt-
heit zu zeigen. Erregten ihm dagegen diese an sich unschönen Formen An-
stoss, so drohte andererseits die entgegengesetzte Gefahr, dass er über dem
Streben nach Schönheit den ganzen Charakter verwischte und an die Stelle
wirklicher Barbaren ein Zwittergeschlecht von Hellenen und Barbaren setzte.
Untersuchen wir daher, auf welche Weise der Künstler den richtigen Mittelweg
zwischen diesen beiden Klippen gefunden hat, auf welchem allein es möglich
wird, dass dem Beschauer die unschönen Einzelnheiten nicht als etwas un-
angenehm Hässliches entgegentreten, sondern vielmehr als ein eigenthümliches
Verdienst des Werkes erscheinen. Ich will nicht die griechische Kunst, wie
man es versucht hat, in zwei grosse Hälften zertheilen, eine Kunst der Naivetät
und eine Kunst der Reflexion. Aber wir mögen uns an jedes beliebige Werk
der früheren Zeit erinnern, möge es aus naturalistischer Anschauung hervor-
gegangen sein, wie bei Demetrios, oder möge es durch die lebendigste Be-
obachtung der feinsten Züge,-wie bei Lysipp, mit der Wirklichkeit gewetteifert
haben; immer mussten wir die Unmittelbarkeit der künstlerischen Anschauung
anerkennen, welche sich mit unbefangenem Sinne den Erscheinungen des Le-
bens hingab. An den Statuen der Gallier dagegen lässt sich die bewusste
Ueberlegung in der Behandlung alles Einzelnen nicht verkennen; und ich stehe
nicht an zu behaupten, dass der Künstler seine Aufgabe durch künstlerische
Kritik, durch die auswahlende, sichtende Thätigkeit des Geistes, zu lösen
versucht und wirklich gelöst hat. Weit entfernt, uns den ersten besten Gallier
treu nach der Natur copirt (ocüroavdoojncy öyotov, wie es von Demetrios heisst)
vorzuführen, sammelt er vielmehr zuerst sorgfältig aus einer Mehrzahl dieses
Volksstarnmes die einzelnen Züge, welche allen gemeinsam sind, und in ihrer
453 Gesammtheit diesem Volke erst seinen bestimmten Charakter geben. Freilich
mussten alle diese Züge eben so viele Abweichungen von der reinen Schönheit
sein. Aber auch diese Abweichungen, sei es dass sie auf die Verschiedenheit