Kunst in
griechische
nach
äusserer
Wahrheit.
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Werk erhalten, Welches wenigstens in seinem Urbilde als die Frucht eben dieser
Geistesrichtung betrachtet werden muss. Zu ihrer vollen Blüthe entwickelt sich
dieselbe jedoch erst in der nächsten Periode.
Die eben erwähnten Werke sind vor allem geeignet, uns an die Bemerkung
zu erinnern, mit welcher wir den Rückblick auf die vorige Periode beschlossen
haben: dass nernlich jetzt die Malerei auf die Sculptur einen sichtbaren Ein-
fluss auszuüben beginne. Denn offenbar hat der, man möchte sagen, schillernde
Gharzikter des Paris sein Vorbild in dem wetterxxrendischen Demos der Athener
von Parrhasios, das Pathos der sterbenden lokaste in der zum Tode verwundeten
Mutter von Aristides, welche ihr Kind von der Brust abhält, um es nicht statt
der Milch das Blut einer Sterbenden einsaugen zu lassen. Jener Einfluss aber
bleibt nicht auf die YVahl und die geistige oder poetische Auffassung des Gegen-
standes beschränkt, sondern äussert sich ebenso nachdrücklich in Hinsicht aut
die formelle Behandlung. Die Malerei zur Zeit des Zeuxis und Parrhasios tritt
zu der älteren des Polygnot vornehmlich dadurch in einen scharfen Gegensatz,
dass sie sich dem Streben nach Illusion hingiebt: den sprechendsten Beweis dafür
liefert der bekannte Wettstreit der beiden Meister, deren einer durch gemalte
Trauben die Vögel, der andere durch einen gemalten Vorhang seinen Neben-
buhler selbst täuscht. Worin aber bestand nach dem Urtheile der Alten das
charakteristische Verdienst des Praxiteles und Lysipp? In der veritas, der-
jenigen Wahrheil, welche uns ein getreues Bild der Natur weniger nach ihren
tieferen Gesetzen, als nach ihrer äusseren Erscheinung giebt. In diesem einen
Streben erkennen wir sogar den Punkt, in welchem die früher hervorgehobenen 439
Eigenthümlichkeiten und Gegensätze der beiden herrschenden Kunstschulen ihre
Einigung finden. Die subtile Durchbildung der Form bis in das Einzelnste,
die schlankeren Proportionen, das individuelle Gepräge in Bewegung; und Stel-
lung bei Lysipp, der Reiz der Farbe, die Weichheit und Zartheit in Behandlung;
der Oberfläche, die bequeme behagliche Ruhe in den Stellungen bei Praxiteles,
alles dieses hat doch nur den Zweck, sich der Wirklichkeit so nahe als möglich
anzuschliessen, den Sinn des Beschauers durch den Eindruck natürlicher Wahr-
heit gewissermassen gefangen zu nehmen.
Es ist gewiss vollkommen richtig, wenn Lessing (Laokoon, Anhang g 10)
behauptet: dass nur das die Bestimmung einer Kunst sein könne, wozu sie
einzig und allein geschickt sei, und nicht das, was andere Künste eben so gut,
wo nicht besser können, als sie. Nicht alles, was die Kunst vermöge, solle sie
vermögen. Nehmen wir aber diesen Satz zur Grundlage unseres Urtheils über
den YVerth jenes Einflusses der Malerei, sowie über die ganze Entwickelung
der Sculptur in dieser Periode, so dürfen wir nicht leugnen, dass gegen ihn
bereits mehrfach gefehlt worden ist: man muthete der Sculptur in vieler Be-
ziehung schon mehr zu, nicht als sie zu leisten vermochte, wohl aber als sie
vermögen sollte. Gerade je geringer verhältnissmässig die Mittel sind, welche
dieser Kunst zu Gebote stehen, um so strenger soll sie in der Anwendung der-
selben verfahren, und sich selbst auf das wirklich Wesentliche, für die Be-
Zeichnung der inneren Natur des darzustellenden Gegenstandes Nothwendige
beschränken. Wir mussten dagegen vielfach darauf hinweisen, wie jetzt schon
überall das Streben hervortritt, an die Stelle des Wesens den Schein, an die