Bildhauer.
wandte Charaktere vermochten diese innere Umwälzung nicht aufzuhalten; und
wie sich dieselbe in der gesammten Litteratur dieser Epoche abspiegelt, so
musste sie auch auf dem Gebiete der bildenden Kunst endlich den entschiedensten
Einfluss gewinnen. Jene geistige Gewalt, jene energische Thatkräftigkeit, wie
sie sich in den Gestalten des Phidias und Myron offenbart, aber auch selbst
43T in der Ruhe polykletischer Schöpfungen nicht verleugnet, weicht dem Pathos,
dem Leiden oder wenigstens der Passivität; selbst das Handeln ist weniger die
Folge eines geistigen Wollens, als äusserer Antriebe. Der orgiastische Taumel
einer Bacchantin entspringt nicht aus einem freien, selbstthätigen Bewusstsein,
sondern wird von einem Gotte erregt (äu dem? navsioäat). Die Melancholie, das
Sehnen der Meergötter ist ein Leiden und Dulden, von welchem keine Erlösung
möglich ist. Aus Alexanders Antlitz spricht der rastlos voranstürmentle Er-
oberer. Die Ruhe eines Dionysos ist nicht ein sich Sammeln zu neuer 'I'hätig'keit,
sondern eine Ruhe von vorhergegangenem Genuss. Selbst Herakles in der Auf-
fassung, wie ihn die farnesische Statue zeigt, steht ermattet da. Die Aphrodite
des Praxiteles aber ist nicht die homerische Göttin, welche, wenn auch mit un-
glücklichem Erfolge, doch kühn genug ist, sich in den Kampf der Männer zu
mischen. Fast in allen diesen Darstellungen, an denen sich doch vorzugsweise
die Meisterschaft dieser Periode erprobt, waltet also keineswegs das Leben eines
kräftigen Geistes in der Weise vor, dass dadurch der Grundcharakter des Ganzen
bestimmt würde, sondern das Leben der Seele, des Gefühls. Die Darstellung
desselben setzt aber eine gänzlich verschiedene Anschauungsweise, ein durch-
aus verschiedenes Studium voraus. Die Thätigkeit des Geistes ist eine streng
geregelte, ewigen Gesetzen unterworfene; Gefühl und Seelenleben gewähren cia-
gegen der besonderen Individualität eine grössere Freiheit der Bewegung, finden
aber ebendeshalb ihren Ausdruck in weniger stätigen dauernden Formen. Das
Studium wird sich daher von der Erforschung des bleibenden festen Gesetzes
ab- und auf die Beobachtung der einzelnen Erscheinungen und Zustände lenken;
und an die Stelle der früheren ethischen Charaktere werden Gestalten treten,
welchen vorzugsweise ein psychologisches Interesse beiwohnt. Sehr bezeichnend
für diese Richtung; der Kunst sind daher Werke, wie der Paris des Euphranor,
in welchem man nicht weniger den Richter der Göttinnen und den Liebhaber
der Helena, als den Mörder des Achilles erkannte; oder wie das Bildniss des
Apollodoros, in welchem Silanion, so zu sagen, den Zorn verkörpert hatte.
Hier musste indessen immer noch das Hauptaugenmerk der Künstler darauf
gerichtet sein, bestimmte Persönlichkeiten in der vollen ihnen inwohnenden
438 Eigenthümlichlteit und Individualität zu zeigen und dieselbe in typischer Weise
durchzubilden. Ein weitererlSchritt auf der Bahn dieser zugleich psycho-
logischen und pathetischen Entwickelung musste aber dahin führen, die Per-
sönlichkeit einer einzelnen, bestimmten Situation unterzuordnen. Dass dies
schon jetzt der Fall war, lehrt z. B. die sterbende lokaste des Silanion, ein
Bild, in welchem der pathetische Ausdruck des Todes so sehr die Hauptsache
war, dass der Künstler ihn sogar durch die Farbe zu unterstützen suchte; und
noch jetzt ist uns in dem sterbenden Alexander der Florentiner Gallerie 1) ein
Müll.
Oest.