Bildhauer.
Bei diesem Wechsel in den politischen Verhältnissen Griechenlands würde
es uns keineswegs überraschen dürfen, wenn wir auf dem Gebiete der Kunst
ganz entsprechende Erscheinungen vorfänden. Allein hier behauptet, was in
der vorigen Periode begründet worden, eine nachhaltige WVirkung. Athen und
das mit Argos eng verbundene Sikyon bleiben, wenn auch nicht die Hauptsitze
der Kunstühung, doch die Mittelpunkte, von welchen aus die Kunst ihr höheres,
geistiges Leben erhält, an welche sich die ganze innere Entwickelungsgeschichte
anschliesst. In den Persönlichkeiten des Skopas, Praxiteles und Lysipp aber tritt
uns das Wesen der attischen und peloponnesischen Kunst ihrer Zeit in ebenso
scharfen Zügen entgegen, wie das der vorhergehenden in Phidias, Myron und
Polyklet; und lassen sich auch Skopas und Praxiteles nicht einander in der-
selben Weise gegenüberstellen, wie Phidias und Myron, so ist doch ihr Verhält-
niss zu Lysipp dem der letzteren zu Polyklet ganz analog. In dieser Beobach-
tung ist für uns die Mahnung enthalten, die Kunst dieser Periode nicht als
von der früheren Entwickelung gänzlich losgelöst zu betrachten, sondern, so
viele und tiefe Verschiedenheiten sich auch zeigen mögen, dieselben wo möglich
mit vorangegangenen Erscheinungen zu verknüpfen, aus ihnen abzuleiten und
zu erklären.
Wir versuchen dies zuerst hinsichtlich des Kreises derKunstdarstellungen,
auf welche sich die Thätigkeit der verschiedenen Schulen erstreckte. Hier bietet
sich uns sogleich ungesucht die Bemerkung dar, dass die Vielseitigkeit, welche
die Attiker vor den Peloponnesiern auszeichnete, ihnen auch in dieser Periode
bewahrt bleibt. Götterbilder werden noch in ebenso bedeutender Ausdehnung
wie bisher gearbeitet; ja einzelne Künstler scheinen sogar fast ausschliesslich
nur an ihnen ihre Kunst geübt zu haben. Freilich finden wir darunter keinen,
welcher durch eines seiner Werke, wie Phidias durch seinen Zeus, der bestehen-
den Religion ein neues Moment hinzugefügt hätte. Aber wenn es nicht möglich
war, in geistiger Hoheit und Erhabenheit über diejenigen Götterideale hinaus-
zugehen, welche Phidias für alle Zeiten festgestellt hatte, so zeigte sich ein um
429 so lebhafterer Wetteifer, die Ideale derjenigen Götter durchzubilden, deren Wesen
mehr auf sinnlichem Reize und milder Anmuth beruht. In diesem Sinne er-
fahren sogar manche in der früheren Zeit strenge und ernst gehaltene Gestalten,
wie z. B. die der Aphrodite, eine gänzliche Umbildung, und die Darstellung in
jugendlichem, ja zuweilen knabenhaftem Alter, gewinnt immer mehr an Aus-
dehnung. Noch schärfer aber prägt sich die eben bezeichnete Richtung in einem
ganz neuen Kreise von Darstellungen aus. Wir wiesen bereits am Ende der
vorigen Periode darauf hin, wie die Kunstbestrebungen nach Phidias und Myron,
indem sie von diesen beiden in vielen Beziehungen entgegengesetzten Brenn-
punkten ausgehend, das Göttliche dem rein Menschlichen annäherten und das
Menschliche zu höherer Wahrheit verklärten, sich endlich begegnen mussten in
Gestalten, welche recht eigentlich als eine Verkörperung des Geistigen und des
Poetiscben im Leben. sowohl des Menschen, als der ganzen Schöpfung zu betrach-
ten sind. Skopas und Praxiteles stellen die unerreichten Muster für Bildungen
solcher Wesen auf, jener Halbgötter und Daemonen aus der Begleitung der-
Aphrodite, des Dionysos, des Poseidon u. a.; und noch jetzt sind mit deren
Nachbildungen aus römischer Zeit alle Museen angefüllt. Denn sie waren es,