Die
Kunst
griechische
Streben
in ihrem
nach
äusserer
Wahrheit.
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Ungewiss ist das Material bei der Statue der Tyche, welche er für die Syrier
am Orontes (d. i. die Antiochener) gemacht hatte, und welche von diesen in
hohen Ehren gehalten wurde: Paus. 1.1. Eine sehr schöne und gewiss richtige
Vermuthung über dieses Werk hat O, Müller 1) aufgestellt, indem er die Tyche
für die Stadtg-öttin von Antiochia erklärte, von welcher uns auf Münzen und in
statuarischen Werken zahlreiche Nachbildungen erhalten sind 2). Die Göttin
sitzt, der Localität der Stadt entsprechend, auf einem Felsen und zu ihren
Füssen erscheint in halber Figur aus den Wellen auftauchend der Flussgott
Orontes als Jüngling. Die Bewegung der Göttin ist so motivirt, dass die ganze
rechte Seite des Körpers sich nach der linken hinwendet. Der rechte Fuss ist
über den linken geschlagen und auf ihn stützt sich der Ellenbogen des rechten
Armes, während der linke dieser Wendung entsprechend, sich hinterwärts auf-
Stützt, um dem nach dieser Seite drückenden Körper einen Haltpunkt zu
gewähren. Die Mauerkrone chztrakterisirt die Stadtgöttin, Aehren in der Rechten
(an deren Stelle in Münzen freilich auch ein Palmzweig erscheint), die Frucht-
barkeit der Gegend. Durch die Bewegung der Figur aber, namentlich durch
das Zurückziehen des einen Armes, entwickelt sich eine Fülle der reizendsten
Motive für die Gewandung. Wenige Werke aus dem Alterthume sind uns
erhalten, welche sich mit diesem in der Anmuth der ganzen Erscheinung ver-
gleichen liessen. Schwerlich wird sich Jemand dem Zauber desselben zu ent-
ziehen im Stande sein, und ich bin weit entfernt, diesen Genuss und die Freude
daran irgend jemand verbittern zu wollen] Doch aber muss ich darauf mit Nach-
druck aufmerksam machen, wie weit sich diese Götterbildung von denen älterer 413
Zeit unterscheidet. Von dem religiösen Ernste und der feierlichen Würde, welche
früher den Bildern der Götter eigen, ja nothwendig waren, lässt sich bei dieser
Tyche kaum noch reden; ja nicht einmal die Strenge, der decor der älteren
Sitte, kann für einen besonders bezeichnenden Zug an diesem Bilde gelten.
Vielmehr steht es in seiner äusseren Erscheinung dem sogenannten Genre weit
näher; Sein Grundcharakter ist der einer allgemein menschlichen Anmuth.
Wohl mag eine Stadt, welche sich aus einem schönen Thale an einer anmuthi-
gen Höhe hinaufzieht, einen ähnlichen Eindruck gewähren. Aber dieser Ein-
druck bleibt immer wesentlich verschieden von dem Gefühl der Erhebung,
Welches ein von einer hohen geistigen Idee erfülltes Werk in uns hervorrufen
muss. Durch dieses Urtheil soll, wie gesagt, dem Verdienst des Eutychides kein
Abbruch geschehen; aber ausgesprochen musste es werden, um den Wechsel
der Zeiten, die durchaus veränderte Anschauungsweise zu bezeichnen, welche
auchda, wo zu einer erhabeneren, geistigeren Auffassung noch Gelegenheit
gegeben war, dem Gefälligen und Anmuthigen überall eine bevorzugte Geltung
einräumte. WVir durften dieses hervorzuheben unrso weniger unterlassen, als
gerade dieses Werk, weil es, wenn auch nur in Gopien noch erhalten, besonders
geeignet erscheinen muss, auch auf die unmittelbar vorhergehende Zeit ein
bestimmteres Licht zu werfen, und namentlich das Wesen der Eleganz, das
iucundum genus bei Lysipp in seiner concreteren für den äusseren Sinn fass-
liehen Gestaltung uns vor Augen zu führen. Wie aber bei der Tyche die alte
1) Diss. Antioch. I, 14. 2) Namentlich eine
Müller u. Oest. Denkm. I, Taf. 49.
Bruun, Geschichte der griechischen Künstler. 2. Autl.
Statue
im
Vatican
PC1.
vgl