griechische Kunst
äusserer
nach
Streben
ihrem
Wahrheit.
Es sei mir erlaubt, hier nochmals an das zu erinnern, was schon bei
Gelegenheit des Phidias über die besondere Beobachtung optischer Gesetze in
der Architektur bemerkt wurde: dass nemlich die Theile, Welche dem Auge
gleich erscheinen sollen, durchaus nicht immer gleich sind, sondern je nach 378
der verschiedenen Stelle, welche sie einnehmen, in ihren Maassen von einander
abweichen. Die Eckstiulen z. B. müssen, um mit denen in der Mitte von gleicher
Stärke zu erscheinen, eine grössere Stärke haben, weil das vollere, von mehreren
Seiten sie umgebende Licht das Volumen für das Auge verringert. S0 ist aber
auch das Auge bei der Betrachtung des Menschen vielfach der Täuschung unter-
worfen, wie ein Jeder beobachten kann, wenn er z. B. von einem niedrigen
Standpunkte aus eine Gestalt über dem Horizont sich in der reinen Luft ab-
setzen sieht. WVir haben ferner darauf hingewiesen, wie das Erz als undurch-
sichtiger Stoff weit Weniger Licht in sich aufnimmt, als der Marmor, wie daher
eine und dieselbe Form in dem einen Stoffe voller, in dem anderen magerer
erscheinen wird. Nehmen wir also einmal an, dass Polyklet ohne Rücksicht
auf die durch das Auge bedingte Täuschung, sowie ohne Rücksicht auf den
Stoff, in welchem er die Form darstellte, rein das absolute Maass, wie er es
gemessen (ad exemplum)1), in seinen Bildungen wiedergegeben habe, so wird
die Folg-e gewesen sein, dass seine Körper im Erz zwar nicht voller und massi-
ger waren, als in der Natur, aber voller und massiger erschienen, als die wirk-
liche Natur sie dem Auge zeigte. Gerade das Entgegengesetzte war es, was
Lysipp zu erreichen strebte: er weicht von den positiven Verhältnissen der
Körper ab, und überlässt es der Beurtheilung des Auges, nach dem Scheine
die Maasse zu bestimmen; er sucht diesen Schein auch auf die Darstellung der
Gestalt im Stoffe zu übertragen. So konnte er mit Recht sagen: er bilde die
Menschen nicht, wie sie seien, sondern wie sie zu sein scheinen. Gern will
ich dabei Müller zugestehen, "dass sich damals, wie in allen Dingen, so auch
in der Kunst, der vom Schönen gesättigte und übersättigte Geschmack der
Hellenen schon vom Einfachen und Natürlichen abzuwenden anfing, und dass
darum die Künstler nicht mehr, wie früher, in den Gymnasien mit unbefangenem
Sinne die herrlichsten Formen und vollkommensten Proportionen suchten, son-
dern nach eigener Willkür ein System schufen, welches den erwähnten Sinn
durch Neuheit blendete und entzückte den (fälschlich sogenannten) Idealstyl 379
der griechischen Kunst? Aber, was Lysipp that, war doch immer nur ein
erster, wenn auch ein bedeutender Schritt nach dieser Richtung hin. Er folgte
noch nicht „einem Begriffe von der Menschengestalt, der ganz ausser der Er-
fahrung liegt." Allerdings aber konnte sein Bestreben, an die Stelle der Wirk-
lichkeit und Wahrheit den Schein derselben zu setzen, zu dem Glauben ver-
leiten, dass die Kunst sich über die Wirklichkeit zu erheben und eine jenseit
der Natur liegende Schönheit zu erreichen vermöge.
Doch wir haben hier noch nicht zu untersuchen, was das Beispiel des
Lysipp auf die nachfolgenden Künstler wirkte, sondern vielmehr, auf welchen
Ursachen seine eigene künstlerische Entwicklung beruhte. Wir müssen dabei
zu dem Anfange unserer Untersuchung; zurückkehren. Wir suchten dort nach-
Varro