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Die
Bildhauer.
handlung der archaischen Epoche gegenüber, aus Welcher ein Uebergang zu
einer rein naturalistischen Auffassung nirgends nachweisbar war. Vielmehr
dürfen wir bei ihm diejenige Art der Darstellung erwarten, welche man in der
neueren Kunstsprache eine stylisirte zu nennen pflegt; eine solche, welche von
dem Aeusseren der Erscheinung abstrahirt und das Haar mehr in denjenigen
Gliederungen und Massen zu bilden sucht, welche die eigenthümliche Natur
desselben gewissermassen als nothwendig und gesetzmässig vorschreibt. Für
die Beurtheilung der weiteren Entwickelung" durch Lysipp sind wir wieder fast
ausschliesslich auf den Apoxyomenos angewiesen. In dieser Statue liegt das
kurzgeschnittene Haar Weder eng am Schädel an, noch theilt es sich in regel-
rnässig abgemessene Partien, welche, in bestimmter Beziehung zu einander.
sich wiederum dem Ganzen systematisch unter-ordneten. Jede der einzelnen
kleinen Massen steht vielmehr für sich, und wird in ihrer Lage und Bewegung
höchstens ganz mechanisch von der ihr zunächst benachbarten bedingt. Diese
ganze Behandlungsweise geht aber nicht von einer tieferen Anschauung der
Natur des Haares und seines Wuchses aus, sondern von der reinen Beobachtung
dessen, was gerade in der Wirklichkeit erscheint.
377 Als Eigenschaften der lysippischen Werke würden jetzt noch die veritas,
welche Quintilian 1), und die argutiae operum, welche Plinius ihm beilegt, näher
zu betrachten sein. Doch werden wir zu einem sicheren Urtheil über dieselben
nicht gelangen können, ohne zuvor uns mit den allgemeinen Ansichten des
Künstlers über künstlerische Darstellung näher bekannt gemacht zu haben.
Wir kehren deshalb noch einmal zu jener längeren Stelle des Plinius zurück,
und wenden uns zu dem Ausspruche, durch welchen Lysipp selbst die tiefere
Bedeutung, den Grund und den Zweck seiner Neuerungen charakterisiren zu
wollen scheint: volgoque dicebat ab illis (antiquis) factos, quales essent homines,
a se, quales viderentur esse. Den Sinn dieser Worte ausführlich zu erörtern,
erweist sich auch darum als nothwendig, weil ein Gelehrter, wie O. Müllerä),
die Behauptung aufgestellt hat: sie beruhten in ihrer jetzigen Fassung auf
einem Missverständnisse, welches zuerst zu beseitigen sei, wenn sie überhaupt
einen Sinn geben sollten. Er glaubt nemlich, „dass Plinius hier, wie öfter, das
griechische Original, welches er in der ganzen Stelle ausdrückt, nicht genau
wiedergiebt. Lysippos sagte etwa: oi näv npö ägcoü rsxvfrat änuhyoav rorig cZv-
äpainovg oioi sirnv, äyoi öä 01011,; äorxev eivat, und Plinius, statt zu übersetzen:
quales esse convenit oder par est, dachte an das gewöhnlichere videtur. Lysippos
wollte also sagen: die Früheren zogen ihre Regeln blos von der Natur ab, ich
folge zugleich einem Begriffe von der Menschengestalt, der ausser der Erfahrung
steht, einem Ideale." Zu bemerken ist hier zunächst, dass nicht Plinius der
Uebersetzer ist, sondern Varro, aus welchem Plinius an dieser Stelle schöpfte 3).
Diesen aber werden wir schon weniger, als Plinius, einer Nachlässigkeit oder
eines lrrthums in der Uebersetzung zu beschuldigen geneigt sein, zumal wenn
es sich zeigt, dass die Worte, wie sie überliefert sind, einen keineswegs ver-
werflichen Sinn geben.
1) x11,
12a Hgi
Sehr.
331.
vgl.
J 211111
Ber.
sächs.
Gßsellsch.
18501