Die
Kunst
griechische
Streben nach
ihrem
äusserer .Wahrheit.
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diese Mitte ihnen noch eine hinlängliche Stütze zu gewähren vermöchte. Und
so erschien Euphranor in der That in universitate corporum exilior, capitibus
articulisque grandior 1). Erst Lysipp erkannte hier dasiGesetz, dass Arme und
Beine nur dann mit dem übrigen Körper sich im Gleichgewicht befinden würden,
wenn auch ihnen eine grössere Schlankheit, nicht durch eine Schmälerung ihrer
Stärke, sondern durch eine grössere Ausdehnung in der Länge verliehen werde.
Plinius zwar spricht diesen Satz nicht in der hier gegebenen Fassung aus;
seine Richtigkeit ergiebt sich indessen aus dem Gegensatz, in welchem sich
das Lob des Lysipp zu dem Tadel des Euphranor befindet; und wem etwa noch
ein Zweifel übrig bleiben sollte, der wird sich auch hier durch den Augenschein,
den vaticanischen Apoxyomenos, belehren lassen können. Denn "der eigenthüm-
liche Charakter dieser Statue beruht gerade in der Schlankheit aller ihrer Glieder.
Diese aber ermöglicht überall Leichtigkeit, Schnelligkeit, Geschmeidigkeit der
Bewegung; und durch diese Eigenschaften wird hinreichend ersetzt, was dem
Körper etwa an Gewicht abzugehen scheint.
Anders, als mit den Armen und Beinen, verhält es sich mit dem Kopfe.
Schlanker, etwa in der Weise wie ein Schenkel, vermag dieser Theil des Kör-
pers nicht gebildet zu werden. Soll er also nicht zu schwer auf dem Körper
lasten, so wird dies nur auf dem von Lysipp eingeschlagenen Wege erreicht
werden können, nemlich durch Verkleinerung seiner gesammten Masse. Hier
aber zeigt sich auch zuerst deutlicher, wie durch die Veränderung Lysipp's in
den Proportionen die sichere Grundlage, welche der Kunst ein festes, auf ma-
thematischen Verhältnissen beruhendes System zu gewähren vermochte, wesent-
lich geschmälert wurde. Zwar wird bei der vermehrten Schlankheit der Figuren
auch die Verkleinerung des Kopfes in einem gewissen regelmässigen Verhält-
nisse stattfinden müssen. Allein in den einzelnen Fällen wird sich der Künstler
doch mehr von dem Eindrücke, von der äusseren Gesanlmtwirkung bestimmen
lassen, als von einem festen Gesetze, wie es der Kanon des Polyklet bot: das
leitende Princip ist nicht mehr in dem ännsroov, sondern in dem 01544121901: zu
suchen. Das Verdienst des Lysipp ist also mehr ein persönliches, als ein all-
gemeines: symmetriam diligentissime custodit, er weiss durch feine Beobachtung
immer das richtige Maass zu treffen; dass er hingegen ein streng gegliedertes,
auf jeden einzelnen Fall anwendbares System theoretisch aufgestellt habe, wird
nirgends gesagt; und einzelne Verirrungen späterer Zeit, wie z. B. Köpfe, die
etwa nur ein Zehntheil der Figur messen, bekunden es deutlich, dass Lysipp
es unterlassen hat festzustellen, bis zu welcher Grenze überhaupt auf dem von
ihm betretenen XVege vorzuschreiten erlaubt sei.
Ueber die Behandlung der Formen im Einzelnen stehen uns nicht so reiche
Nachweisungen zu Gebote, wie in der obigen Stelle des Plinius über die Pro-
portionen. In dieser selbst wird nur ein Punkt, die Behandlung des Haares,
kurz erwähnt, jedoch nicht genau angegeben, worin eigentlich die Neuerung
bestand. Auch hier werden wir daher die frühere Zeit zum Vergleich herbei-
ziehen müssen. Von Pythagoras nemlich hiess es. dass er capillum diligentius
expressit. Dieser Künstler aber befand sich der typisch-conventionellen Be-