Bildhauer.
jenigen gegenüber, Welche der Ruhe doch nur in soweit geniessen, als dieselbe
durch die möglichste Schonung der eigenen Kraft ohne Unterstützung von aussen
erreicht werden kann, so lässt sich nicht verkennen, dass in ihnen auch jeder
Schein einer Anstrengung noch weit sorgfältiger vermieden ist. Denn die bei
der Bewegung betheiligten Kräfte erscheinen nicht nur für den Augenblick ausser
Thätigkeit gesetzt, sondern in derjenigen Abspannung, welche ihnen sowohl
von der vorhergehenden Anstrengung die vollste Erholung vergönnt, als für jede
nachfolgende sich zu ergänzen und zu erneuen Gelegenheit bietet.
Mehr noch, als in den Stellungen, zeigt sich aber bei Lysipp ein Abgehen
von den Regeln des Polyklet in den Proportionen. Wir erhalten darüber aus-
führliche Belehrung durch Plinius 1): „Zu der weiteren Ausbildung der Kunst
F4 soll Lysipp sehr bedeutend beigetragen haben, indem er den Charakter des
Haares ausdrückte, die Köpfe kleiner machte, als die Alten, die Körper schlanker
und magerer, damit dadurch der Wuchs der Bilder höher erscheine. Die la-
teinische Sprache hat keinen passenden Ausdruck für die Symmetrie, welche
er auf das Sorgfältigste beobachtete, indem er auf eine neue, noch nicht da-
gewesene Art die quadraten Statuen der Alten veränderte; und er pflegte zu
sagen, von diesen seien die Menschen gebildet, wie sie seien, von ihm, wie sie
zu sein scheinen." Dieses Urtheil steht offenbar mit demjenigen, welches Pli-
nius über Polyklet aus Varro anführt, im engsten Zusammenhange, und auch
wir müssen des "richtigen Verständnisses wegen nochmals auf Polyklet zurück-
kommen.
Die Proportionen dieses Künstlers beruhten auf der Annahme eines mittleren
Maasses. Er vermied das Plumpe, Schwere, aber eben so das Zierliche, Leichte.
Seine Körper sollten durch ihr Gewicht einer freien, ungehemmten Entwickelung"
ihrer Kräfte nicht hinderlich werden; aber eben so wenig sollte ihnen zu einer
nachdrücklichen Aeusserung derselben das Gewicht mangeln. Die nachfolgende
Zeit verlangte, Kräftigkeit mit grösserer Leichtigkeit gepaart zu sehen. Das
Mittel, um zu diesem Zwecke zu gelangen, kann nach einem einfachen me-
chanischen Gesetze nur darin gefunden werden, dass das Volumen der wirkenden
Kräfte, hier also die Masse des Körpers, an Umfang verringert wird, aber trotz-
dem zu einer gleich starken Aeusserung seiner 'I'hätigkeit befähigt bleiben muss.
Diese Aeusserung beruht im menschlichen, wie im thierischen Organismus auf
der 'l'hätigkeit der Muskeln. Sollte also nicht eine der beabsichtigten gerade
entgegengesetzte Wirkung erreicht werden, so durfte der Künstler diese ihre
Bedeutung nicht schmälern. Es blieb daher nur übrig, in der Anlage der Basis,
auf welcher "die Muskeln sich bewegen, dem Knochengerüste, eine wesentliche
Umgestaltung eintreten zu lassen. Einen ersten Versuch in dieser Richtung
hatte, wie wir früher sahen, Euphranor gemacht. Aber er laeschränlate sich,
die Maasse der Brust und des Leibes in der Breite zu verringern und zusammen-
zuziehen, was die nothwendige Folge haben musste, dass Arme und Beine,
sowie der Kopf, wenn ihre Verhältnisse unverändert blieben, dem Auge zu gross
und zu massig erschienen, als dass ihnen von der geschwächten Mitte des Kör-
375 pers noch hinlängliche Kräfte der Bewegung zugeführt werden könnten, oder