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Bildhauer.
Die
ist. Auch für diese Art des Pathetischen liefern uns die Werke des Skopas
einen Beleg: ich meine seinen Zug von Meergöttern und Seethieren. Zwar
erwähnt Plinius denselben nur kurz; und wir dürfen kaum wagen, ein einzelnes,
uns erhaltenes Werk bestimmt auf ein Original des Skopas zurückzuführen.
Aber alle in diesen Götterkreis einschlägigen Gestalten tragen einen so einheit-
lichen Charakter, dass wir wohl gerade dieses Gemeinsame auf den idealen
Typus zurückführen dürfen, welchen Skopas in seinem so umfangreichen, wie
331 berühmten Werke aufgestellt und auf die mannigfachste Weise durchgeführt
hatte. Das Wasser und besonders das Meer hat in der Poesie aller Völker den
Charakter der Schwermuth, der Sehnsucht. Wie es in der Natur wohl momen-
tan ruhen, von jedem Hauche aber in leise Schwingungen, vom Sturm sogar
in die wildeste Bewegung versetzt werden kann, ohne je zu einer festen Gestalt
zu gelangen, so zeigt es sich auch, wenn ihm von der Poesie oder der Kunst
Persönlichkeit geliehen wird. An ihr Element gebannt, streben diese Meeres-
gestalten stets nach Vereinigung mit den Geschöpfen der Erde. Bald mit weh-
müthiger Klage, bald mit wilder Gewalt suchen sie dieselben zu locken, zu
bezwingen; und nie wird ihre Sehnsucht auf die Dauer gestillt: nie verschwindet
daher auch dieser Ausdruck der Sehnsucht. Künstlerisch sehen wir denselben
in den griechischen und den von ihnen abgeleiteten römischen Werken in klar-
ster und sprechendster Weise durchgebildet. Vergleichen wir aber die ihm zu
Grunde liegenden Formen mit denen der olympischen Götter eines Phidias, so
lässt sich eine wesentliche Verschiedenheit im Grundcharakter nicht verkennen.
Bei den Olympiern herrscht in dem Ausdrucke Klarheit und Ruhe, welche darin
begründet sind, dass das Bestimmende des Charakters in denjenigen Theilen
ausgeprägt ist, welche durch ihre feste Form den Zweck. haben, den weichen
und beweglichen Theilen als Grundlage zu dienen, nämlich in dem Bau des
Knochengerüstes, welchem die fleischigen Theile gewissermassen nur zur Um-
hüllung dienen. Bei den Gestalten des Meeres dagegen treten gerade diese
letzteren in einer weit bestimmteren, durchaus selbständigen Geltung hervor.
Namentlich der Mund und die weichen, das Auge umgehenden Theile offen-
baren sich als der Sitz jenes Schmerzes und jener Sehnsucht. Haben wir nun
in dieser neuen Behandlung der Form etwas Zufälliges, etwas Willkürliches zu
sehen, für welches es keinen anderen, tieferen Grund gäbe, als die Subjectivität
des Künstlers? In dem menschlichen Organismus, dessen Gesetze doch der
Bildung auch dieser Wesen zu Grunde liegen müssen, sind Schmerz und Sehn-
sucht nicht etwas nothwendig bleibend Vorhandenes, setzen deshalb auch keinen
festen, in gewissen Formen verharrenden Träger dieser Seelenzustände voraus.
Sie sind Leiden, nctdvy, welche vorübergehen, oder wenigstens vorübergehen
können, ja sogar häufig und schnell in das Gegentheil umschlagen. Sie können
332 daher nur in denjenigen Theilen zur Darstellung kommen, die zu einer solchen
Beweglichkeit und Wand elbarkeit ihrer Natur nach geschickt und berechtigt sind.
Das Verdienst der Griechen, und in dem vorliegenden Falle hauptsächlich das
d_es Skopas, beruht also auch hier wieder wesentlich darin, dass sie, wo es galt,
etwas Neues zu schaffen, immer wieder zum Urquell der Kunst, zur Natur, zu-
rückkehrten, und das Gesetz, welches durch die Natur vorgeschrieben war, zum
Gesetz der Kunst erhoben.