Die
griechische
Kunst in ihrem
Streben
äusserer Wahrheit.
nach
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Wir fragen jetzt weiter nach dem besonderen Charakter dieser Bildungen.
Anstatt indessen, wie bisher, vom Allgemeinen, Wollen wir jetzt Vielmehr vom
Besonderen, von einer einzelnen Statue ausgehen, und den Maassstab, welchen
wir durch dieselben gewinnen werden, an die übrigen Werke anzulegen ver-
suchen. Wir wählen dazu die rasende Bacchantin. Die Epigramme über dieses
Bild bestreben sich auszudrücken, dass dasselbe von der höchsten Aufregung
gleichsam durchglüht War: Skopas, der Künstler, hatte seiner Bacchantin grössere
Raserei verliehen, als Bakchos, der Gott selbst; er hatte dem Marmor Seele
eingehaucht; das Bild schien über die Schwelle springen zu wollen. Ausführ-
licher ist Callistratus. Zwar leidet seine Beschreibung in hohem Grade an
rhetorischem Schwulst. Da wir indessen bei dem Mangel anderer Quellen von
ihr bei der weiteren Beurtheilung des Skopas ausgehen müssen, so scheint es
nothwendig; um einem Jeden die Prüfung unserer eigenen Auffassung zu er-
leichtern, sie hier in ihrer ganzen Ausführlichkeit folgen zu lassen:
„Nicht blos die Kunstwerke der Dichter und Redner athmen Leben, wenn
Begeisterung von den Göttern sich auf ihre Zungen senkt, sondern auch die
Hände der Bildner, von göttlicherem Hauche ergriffen, bringen Schöpfungen
hervor, welche, so zu sagen, besessen und voll sind von Begeisterungsrausch
(lzcevtag). So liess, wie von einem geistigen Hauche bewegt, Skopas dieses Er-
fülltsein von Gott bei dem Schaffen des Bildes auf dasselbe übergehen. Warum 827
erkläre ich euch aber nicht den Enthusiasmus über die Kunst von seinem An-
fangspunkte an? Es war das Bild einer Bacchantin, aus parischem Stein ge-
bildet, g-eurissermassen vertauscht mit einer wirklichen Bacchantin. Denn ob-
wohl der Stein innerhalb seiner eigenthümlichen Natur verblieb, schien er
doch die Schranke dieser Natur zu überschreiten. Denn was man vor Augen
hatte, war wirklich nur ein Bild; die Kunst aber hatte die Nachahmung bis
zur KVirklichkeit getrieben. Da hättest du sehen können, dass der Stein, ob-
gleich an sich hart, sich selbst wie zum Abbilde weiblicher Natur erweichte,
wenn lebhafte Erregung dieses Weibliche erfüllt; und, wiewohl nach Belieben
sich zu bewegen nicht vermögend, doch bacchischen Taumel verstand und
dem Gotte, welcher in sein Inneres gedrungen, zu antworten schien. Beim
Anblicke des Antlitzes wenigstens standen wir sprachlos da: in so hohem Grade
that sich Empfindung kund, trotzdem dass Empfindung nicht vorhanden sein
konnte; und es sprach sich bacchischer Taumel einer Bacchantin aus, obwohl
ein Ergiiiifenvverderl von Taumel nicht möglich war. Und alle die Zeichen,
welche eine von Raserei gestachelte Seele an sich tragen kann, alle diese liess
die Kunst durch eine unaussprechliche Verschmelzung durchblicken. Das Haupt-
haar war gelöst, dem XVest zum Spiele, und zu blühendem Haarwuchs zerlegte
sich allmählig der Stein. Was aber am meisten alle Voraussetzung übertraf,
war, dass der Stein trotz seiner Härte sich der Feinheit des Haares fügte, und
der Bewegung- der Locken treu folgte und, wenn gleich des lebendigen Wesens
baar, doch Lebendigkeit besass. Man hätte behaupten mögen, dass die Kunst
sogar noch eine Steigerung versucht habe; so unglaublich war, was man sah,
und doch sah man, was sonst unglaublich gewesen wäre. Aber auch die Hände
zeigte uns das Bild in Thätiglaeit: zwar schwang es niCht den bälCChiSChen
Thyrsos, aber es trug ein Opferthier, als wolle es laut autjauchzen, als Symbol