Volltext: Die Bildhauer (Bd. 1)

Die 
griechische 
ihrer 
Kunst in 
höchsten 
geistigen 
Entwickelung. 
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Freilich müssen, um diese Erscheinung ganz zu erklären, auch noch andere, 
tiefergreifende Verhältnisse in Betracht gezogen werden, welche uns zugleich 
darüber belehren, weshalb in dieser Zeit ein gewisser Stillstand in der Ent- 
wickelung eintrat, und ein neuer Aufschwung erst etwa hundert Jahre nach 
dem Auftreten des Phidias sich bemerklich machte. Zuerst ist es nothwendig, 
einen Blick auf die politischen Zustände zu werfen. Die Wechselfälle des pe- 
loponnesischen Krieges erzeugten eine Erschöpfung der meisten Staaten, nament- 
lich aber Athens. Unter ähnlichen Verhältnissen müssen stets die Staaten zu- 
nächst das praktisch Nützliche ins Auge fassen, und erst wenn der materielle 
Wohlstand sich wieder gehoben hat, fängt das Schöne von Neuem an, ein Be- 
dürfniss zu werden. Wir sahen, wie die Kunst des Phidias sich zu ihrerige- 
waltigen Höhe gerade dadurch emporgeschwtingen hatte, dass sie die Kunst 
des attischen Staates war. Jetzt beginnt ihr diese Unterstützung zu fehlen. 
Ausser dem Bau der Propylaeen, welcher noch während des Krieges fort- und, 
wie es scheint zu Ende geführt wurde, kennen wir in dieser und der nächsten 
Zeit kein Bauwerk von Bedeutung, bei dessen Ausschmückung der Thätigkeit 
des Bildhauers ein weiterer Spielraum gewährt worden wäre. Von bekannten 
Werken haben wir nur eine Athene und einen Zeusaltar des Kephisodot, und 
auch diese nur vermuthungsweise, mit (len Bauten des Konon im Peiraeeus in 
Verbindung gesetzt. Fast alle übrigen Werke in Athen aus der zweiten Hälfte  
dieser Periode erweisen sich, wo die Veranlassung der Weihung bekannt ist, 
als Geschenke von Privatleuten, die natürlich in ihren Mitteln beschränkter als 
der Staat waren und sich mit YVerken geringeren Umfanges begnügen mussten. 
Noch tiefer aber, als diese Umwandlung der äusseren Verhältnisse, scheint die 
innere Veränderung, welche während dieses Krieges in dem gesammten Leben 
des griechischen Volkes vor sich ging, auch auf die Kunst eingewirkt zu haben. 
.„Sinnlichkeit und Leidenschaft auf der einen Seite, und eine sophistische Bildung 
des Verstandes und der Rede auf der andern, treten an die Stelle der festen 
und durch sichere Gefühle geleiteten Denkweise früherer Zeiten; das griechische 313 
Volk hat die Schranken der alten National-Grundsätze gesprengt; und, wie im 
öffentlichen Leben, so drängt sich auch in allen Künsten Sucht nach Genuss 
und Verlangen nach heftigeren Aufregungen des Geinüthes mehr hervor" (Müller 
Hdb. d. Arch. ä 103; vgl. die einzelnen Belege in den Noten). Zunächst mochte 
das Vorbild der grossen Geister, welche die bildende Kunst nicht lange vorher 
zur Freiheit geführt hatten, dem Missbrauch derselben noch vorbeugen. Aber 
nach ihrem und ihrer Schüler Tode musste dieser Einfluss sich stets mindern, 
die Forderung nach der Befriedigung neuer Wünsche dagegen wachsen. Wie 
mächtig indessen der erstere noch immer war, zeigt sich daran, dass ein ent- 
schiedener Umschwung erst etwa fünfzig Jahre nach Phidias Tode eintritt. Um 
jedoch die Richtung, in- welcher er stattfand, vollständig zu würdigen, müssen 
wir schliesslich auch die aus dem inneren Wesen der Kunst selbst sich er- 
gebenden Entwickelungsgesetze in Erwägung ziehen und namentlich einen 
Blick auf die Schwesterkünste der Sculptur, auf Architektur und Malerei, werfen. 
Die Sculptur hatte sich noch bis zur Zeit des Phidias selbst an der Architektur 
grossgezogen und vielfach den Zwecken der letzteren untergeordnet. Aber durch 
Befolgen des strengen mathematischen Gesetzes, welches in dieser Kunst sich
	        
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