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Bildhauer.
Viergespanne des Aristides u. s. w., so sehen wir, dass auch in der Bildung
von Thieren diese Schule nicht ohne Auszeichnung thätig war. Aber selbst
hier suchen wir nach einem Werke, Welches die Bewunderung in so lebendiger
Weise herausgefordert hätte, wie der Ladas, der Diskobol, die Kuh eines Myron.
Sollen wir darum den Werth dieser Schule gering anschlagen? Ich glaube
nicht. Denn was bisher gesagt wurde, sollte nur dazu dienen, uns auf den
Weg zu einer richtigen Beurtheilung zu leiten. Ausdrückliche Zeugnisse kommen
uns dabei nicht zu Hülfe. Doch werden wir schwerlich irre gehen, wenn wir
jetzt die Frage aufwerfen: welchen Ausgangspunkt hatte die Schule von Argos?
308 Die Antwort ist unzweifelhaft: die Persönlichkeit des Polyklet. Fast die Hälfte
aller genannten Künstler sind nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Alten
Schüler des Polyklet, die andere Hälfte arbeitet mit diesen Schülern gemeinsam,
oder es sind Schüler der Schüler. Kein Einzelner unter ihnen ragt in solcher
Weise hervor, dass er wieder als Begründer einer neuen Schule von eigen-
thümlicher Richtung gelten könnte. Als das wesentlichste Verdienst des Po-
lyklet haben wir aber oben hervorgehoben, dass er der Kunst eine theo-
retische Grundlage gab, dass er durch Lehre nicht weniger, als durch seine
Werke darauf hinarbeitete, jeder falschen Richtung", welche durch Unwissenheit
oder durch willkürliche, wenn auch geistreiche Laune sich etwa hätte geltend
machen wollen, allen weitergreifenden Einfluss abzuschneiden. Die Früchte
dieses seines Strebens zeigen sich nun an seinen Schülern. Nicht geniale Kühn-
heit, welche durch lebendige Wahrheit die Natur zum Wettkampf heraus-
zufordern scheint, nicht gewaltige, grossartige Erhabenheit, welche sich über
das Irdische zu erheben strebt, bilden das Wesen dieser Schule; wohl aber
finden wir eine Reihe von tüchtigen Werken, correct und ohne Makel bis ins
Feinste durchgeführt. Solchen Werken wird eine volle und lebhafte Anerkennung
in der Regel nur bei Sachverständigen, bei Künstlern zu Tbeil. Der blosse
Liebhaber freut sich daran, an der Reinheit, an der ungetrübten Schönheit,
empfindet aber mehr ein stilles Behagen, welchem es schwer wird, Worte zu
geben, weil dazu das blosse, auch noch so richtige Gefühl nicht ausreicht,
sondern ein bestimmtes künstlerisches Wissen nothwendig ist. Diesem Um-
stande mögen wir es zuschreiben, dass die "Werke dieser Schule weniger, als
die freilich geistreicheren der Attiker, Bewunderer in Worten gefunden haben,
in ähnlicher Weise, wie auch heute von manchen Werken, welche die Künstler
mit Eifer und unablässig studiren, in den Büchern über Kunstgeschichte kaum
ein Wort zu finden ist.
Wir haben versucht, von den Eigenthümlichkeiten der attischen und ar-
givischen Kunstschulen ein Bild in wenigen einfachen, aber möglichst klaren und
bestimmten Zügen zu entwerfen; und sind dabei zu dem Ergebnisse gelangt,
dass wir es im Wesentlichen nur mit der Fortsetzungr dessen zu thun hatten,
was durch Phidias, Myron, Polyklet anerkannte Geltung gewonnen hatte. Wollen
39 wir daher noch besonders auf das Untersclieidende dieser Richtungen aufmerksam
machen, so haben wir kaum etwas anderes zu thun, als uns in das Gedächtniss
zurückzurufen, worin wir das Unterscheidende jener drei Meister erkannt haben.
Wir fanden bei den Attikern überall ein Vorwiegen der Idee. Die dargestellte
Gestalt sollte zunächst einen bestimmten Gedanken aussprechen, sei dies nun