griechische
Kunst
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Wleirchlichen, als von Härte und Rauhheitl). Scharfer begrenzt wird sodann
diese Eigenschaft durch das Folgende: dass Polyklet mit diesem decor die
menschliche Gestalt über die Wahrheit hinaus ausgestattet, der Hoheit der
Götter aber nicht volle Genüge geleistet habe, d. h. ihnen nicht den Ausdruck
der mehr als menschlichen Gewalt und Macht zu verleihen im Stande gewesen
sei. Demnach wird sich das Verhältniss zwischen Phidias und Polyklet mit
hinreichender Sicherheit etwa in folgender Weise bestimmen lassen: Beiden ge-
nleinsam ist das Streben nach Ernst und INürde, welches, ohne die Anmuth
und Zartheit auszuschliessen, sie doch nicht zum Hauptzweck erhebt. Beiden
gemeinsam ist ferner das Streben nach Idealität; aber hier zeigt sich auch die
Wesentliche Verschiedenheit zwischen Beiden, eine Verschiedenheit, die sich
theils auf die Wahl der Gegenstände der Darstellung erstreckt, noch mehr aber
in dem Wege begründet ist, den sie beim Schaffen ihrer idealen Gestalten ei11-
schlugen. Phidias ging von der Idee aus, und in seinem Zeus hatte er die
höchste Idee ergriiten, deren die griechische Kunst fähig war. Der Körper war
ihm zunächst nur das Mittel, die Idee künstlerisch zur Anschauung zu bringen;
und die Schönheit der Form hatte daher ihren Werth nur in sofern, als sie der
Erhabenheit der Idee entsprach. Polyklet ging von dem entgegengesetzten An-
fangspunkte aus, vom Körperlichen. Durch Reflexion über die Verhältnisse und
Gesetze desselben gelangte er dahin, seine Körper von jedem Fehl zu reinigen
und so zu bilden, dass sie über die gewöhnliche Natur hinaus eine höhere
Wahrheit erlangten, die Wahrheit einer gesetzniässigen, organischen Bildung.
Ganz abgesehen von der geistigen Bedeutung des Dargestellten wurden sie
Ideale, in sofern die Idee des Körpers, die ultima generis species, sich in ihnen 227
auf das Schärfste und Reinste ausgeprägt fand. Zeigte sich aber die Grund-
richtung des Polyklet in dem Streben nach dieser Idealität des Körpers, war
ihm diese Selbstzweck, so ist es damit schon gegeben, dass in der Wahl der
geistigen Ideen der Künstler sich auf einen gewissen Kreis beschränken musste,
auf den nemlich, welcher erlaubte, die körperliche Idealität im vollen Umfange
zur Anschauung- zu bringen. Dies ist z. B. selbst bei einem Zeus nicht der
Fall: sein Körper geht über jenes mittlere Alter und Maass hinaus, in welchem
die Form sich in ihrer höchsten Reinheit zeigt; bei dem höchsten der Götter
ist der Körper dem Geiste durchaus untergeordnet. Sollte es indessen scheinen,
dass ich auf diese Weise der Kunst des Polyklet gar zu enge Grenzen setze,
so betrachte man nur, was wir von seinen Werken Wissen. Unter seinen männ-
lichen Gestalten finden wir keine, welche das Jünglingsalter überschritte. Man
wird mir vielleicht den Gegensatz zwischen dem viriliter puer und molliter
iuvenis entgegenhalten. Ich will zugeben, dass diese beiden Figuren Gegen-
stücke waren, um zwei entgegengesetzte Lebensrichtungen zu veranschaulichen.
Aber nichts berechtigt uns zu der Voraussetzung, dass der eine eine muskulöse
Figur, etwa wie der farnesische Herakles, der andere eine weichliche Gestalt
war, etwa wie manche der an das Weibische streifenden Darstellungen des
1) Cic. de off. 1, 35 Status, incessus, sessio, accubitio, vultus, oculi, manuum motus
teneant illud decorlnn. Quibus m rebus duo maxime fugienda, ne qmd effenunatunl aut
mulle. et ne quid duruln aut ILISÜCIUH slt. Vgl. überhaupt die dmmt zusammenhängenden
Capitel.