griechische
Kunst
ihrer
höchsten
geistigw
Plntwickelun;
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Thiersch selbst. Bei diesen aber bietet das excogitasse, selbst auf einen Zeit-
genossen des Phidias angewendet, noch einen völlig richtigen Sinn dar, wenn
wir nur uno crure insistere in strenger Bedeutung auffassen. Die Sitte der
ältesten Kunst war es, die Last des Körpers auf beide Füsse gleichmässig zu
vertheilen. Von diesem Punkte an giebt es mehrfache Uebergangsstufen, je
nachdem der eine Fuss mehr oder minder in Anspruch genommen wird. Je
weniger es der Fall ist, desto leichter wird die Haltung der Figur erscheinen:
denn je weniger von den zum Tragen bestimmten Kräften in Anspruch ge-
nommen werden, desto mehr bleiben zur Verfügung, um jeder Störung des
Gleichgewichts abzuhelfen, desto grösser also erscheint die Sicherheit der Stel-
lung. Polyklefs Verdienst ist es, durch Ueberlegung herausgefunden zu haben, wie
man mit möglichst geringem Kraftaufwand der menschlichen Figur einen festen
Stand zu geben vermöge, nemlich indem die volle Hälfte der Tragkraft, der eine
Fuss, so gut wie ganz ausser Mitwirkung gesetzt wird. Bis zu diesem Punkte
brauchte nicht einmal ein Phidias gegangen zu sein, und ist er auch aller WVahr-
scheinlichkeit nach nicht gegangen, da bei der Würde seiner Göttergestalten ein
geringeres Maass von Leichtigkeit der Haltung sogar der Idee des Künstlers ent-
sprechender sein musste. Aber auch selbst den Fall gesetzt, dass dieser Fort-
schritt dem Phidias in einzelnen seiner Werke nicht fremd geblieben sei, so
ist es immer noch Eigenthümlichkeit genug für Polyklet, diesen Punkt im
Princip festgestellt und nach demselben ausschliesslich oder mit Vorliebe ge-
handelt zu haben. Wer seinen eigenen Augen mehr, als fremden Worten traut,
der möge z. B. die Giustinianische Pallas und den sogenannten Antinous des
Belvedere mit einander vergleichen, um das Verhältniss zu erkennen, wie es 224
etwa zwischen Phidias und Polyklet obgewaltet haben mag. Wie schön sich
aber der Fortschritt des Letzeren in die ganze Entwickelungsgeschichte der
griechischen Kunst einfügt, wird sich später noch deutlicher zeigen, wenn wir
in einer Eigenthünilichkeit praxitelischer Werke lediglich einen weiteren Schritt
auf der von Polyklet eingeschlagenen Bahn erkennen.
Bereits in den bisherigen Erörterungen haben wir uns zuweilen Hin-
deutungen auf die geistige oder poetische Seite der Kunst des Polyklet er-
lauben müssen. Doch wird es angemessener sein, dieselbe, auch auf die Ge-
fahr hin, uns zu wiederholenyeiner ganz abgesonderten Betrachtung zu unter-
werfen. Blicken wir, ohne Rücksicht auf die Urtheile des Alterthums, zunächst
auf die von Polyklet behandelten Gegenstände, so ist es gewiss nicht reiner
Zufall, dass von Götterbildern kaum mehr, als eins, oder wenigstens nur eins
von hervorragender Bedeutung, nemlich die Hera von Argos, angeführt wird.
Fast noch weniger treten uns Heroenbilder von einer bestimmten Individualisirting
entgegen. Hochberühmt ist dagegen eine Amazone, nach Allem, was wir über
ähnliche Darstellungen wissen, gewiss weniger das Bild einer einzigen Persön-
lichkeit, als dieser ganzen Klasse kriegerischer Frauen. Sodann finden wir
einen molliter iuvenis, einen viriliter puer, einen Apoxyomenos, talo incessens,
YVürfels-pieler, und endlich den Kanon, sämmtlich Knaben- und Jünglings-
gestalten, und nicht als Bilder einzelner Personen, sondern als Vertreter ganzer
Klassen nach bestimmten Thätigkeiten. Auch bei den olympischen Sieger-
statuen, sofern wir einige derselben ihm beilegen dürfen, scheint strenge In-