Kunst
griechische
Die
ihrer
ichsten
geistigen
Entwickelung.
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Kanon entlehnt hätte. Doch kann darüber nur eine eigene zu diesem Zwecke
veranstaltete genaue Untersuchung noch erhaltener Denkmäler Aufschluss und
Sicherheit gewähren.
Da nun aber ein vollkommener Körper in der gemeinen Wirklichkeit nicht
exisirt, jenes mittlere Maass also erst durch Beobachtung oder Berechnung ge-
funden werden muss, so können hier je nach der Annahme verschiedener Aus-
gangspunkte auch verschiedene Resultate erzielt werden und unter diesen Vor-
aussetzungen auch neben einander auf Gültigkeit Anspruch machen. WVir würden
daher über den besonderen Charakter der polykletischen Proportionen noch immer
in Ungewissheit sein, gäbe uns nicht ein Wort des Varro bei Plinius 1) einen
Anhaltspunkt. Er nennt nemlich die Bildsäulen des Polyklet quadrata. In diesem
Ausdrucke nun hat Thiersch einen scharfen Tadel sehen wollen, der unmöglich dem
Begründer der Proportionslehre zur Last fallen könne und daher einem älteren Po-
lyklet aufgebürdet werden müsse. Aber was bedeutet quadratum, das griechische
rerpctyravov, auf den menschlichen Körper angewendet? neque gracile neque obe-
sum i), compactis Hrmisque membris 3); also gerade dasselbe, was Galen und Lucian
vom Kanon des Polyklet aussagen. Dazu kommt aber, dass jenes Urtheil des
Varro über Polyklet im engsten Zusammenhänge mit einem andern über Lysipp
zu fassen ist. Polyklet's Figuren sind quadrata, nvierschrötig", wenn man sie
mit denen des Lysipp vergleicht, welcher eine neue Proportionslehre aufstellt: 221
nova intactaque ratione quadratas veterum staturas permutando, nemlich: capita
minora faciendo quam antiqui, corpora graciliora siccioraque, per quae proce-
ritas signorum maior videretur. Grund und Absicht dieser Veränderung giebt
Lysypp selbst in dem Aussprüche an: ab illis factos quales essent homines,
a se quales esse viderentur. Ein Tadel liegt also-in der Bezeichnung des Varro
lediglich vom Standpunkte des Lysipp aus. Wie weit jedoch dieser zum Tadel
berechtigt war, und ob nicht mindestens ein eben so starker Tadel ihn trifft,
werden wir erst später zu untersuchen haben. Für jetzt halten wir uns nur an
die Thatsache, dass die Körper des Polyklet weniger zierlich und schlank, als
fest und kräftig waren. [Das weitere Urtheil des Varro, Polyklefs Statuen seien
paene ad exemplum, wie die Bamberger, paene ad unum exemplum, wie die
übrigen Handschriften des Plinius darbieten, habe ich hier absichtlich ausser
Acht gelassen. Beide Lesarten geben einen Sinn. Denn von dem Vorwurf
einer gewissen Gleichförmigkeit, auf welchen die zweite zielt, werden wir weiter
unten den Polyklet auch ohnehin nicht völlig freisprechen können ; unter welchem
Gesichtspunkte aber seine Werke den Späteren paene ad exemplum, fast ganz
nach dem lebenden Vorbilde, ohne Idealität gebildet erschienen, vermögen Wir
erst später aus genauer Darlegung der gänzlich veränderten Anschauungsweise
der Natur seit Lysipp nachzuweisen] Bei dieser Gelegenheit mag erwähnt werden,
dass der Auctor ad Herennium 4) als mustergültigen Theil an den Werken des
Polyklet die Brust, wie an denen des Myron den Kopf, an denen des Praxi-
teles die Arme, bezeichnet. Und allerdings musste bei der meist ruhigen Hal-
tung seiner Statuen ein grosser Theil der Gesammtwirkung auf der schönge-
gliederten Durchführung der Brust als des Stammes beruhen, von welchem
Gels.
Suet.
VQSP