Bildhauer
nur ihre selbständige Bedeutung, sondern der Künstler strebt selbst mit be-
stimmtem Bewusstsein danach, ihr diese Bedeutung zu verschaffen; ja noch
mehr, er versucht sogar, als der erste, so viel wir Wissen, die Regeln dieser
219 Kunst nicht nur als Künstler in einem Kunstwerke, sondern auch theoretisch in
einer eigenen Schrift, dem Kanon, darzulegen. Sein Augenmerk war dabei
hauptsächlich auf die Proportionen des menschlichen Körpers gerichtet, als auf
welchen die wahre Schönheit desselben vorzugsweise beruhe. Nach Chryssip
bei Galen 1) waren in der Schrift alle Symmetrien des Körpers dargelegt, d. h.
das wechselseitige Verhältniss aller verschiedenen Theile zu einander, wie „des
Fingers zum Finger, aller Finger zur flachen Hand, der Hand zur Handwurzel,
der Handwurzel zum Ellnbogen, des Ellnbogens zum Arm und so jedes Theiles
zum andern." Genau nach dieseln Regeln hatte nun Polyklet einen Körper,
den Kanon, wirklich gebildet, und zwar von solcher Vorzüglichkeit, dass er den
nachfolgenden Künstlern lange Zeit als Norm und Regel galt und eifrig studirt
wurde; ja dass man sogar sagte: ihm allein sei es gelungen, die Kunst selbst
in einem Kunstwerke darzustellen (solusque hominum artem ipsam fecisse artis
opere indicatur: Plin. 34, 55).
Wir suchen jetzt das WVesen dieses Kanon naher zu bestimmen, und be-
nutzen zu diesem Zwecke zunächst eine Stelle des Lucian i), in welcher er uns
zeigen will, wie ein Tänzer körperlich beschaffen sein müsse. Dies glaubt er
nicht besser thun zu können, als wenn er dabei von dem Kanon des Polyklet
ausgeht: er soll nicht zu hoch und nicht übermässig lang, aber auch nicht
klein und zwerghaft, sondern streng ebenmässig sein (äyjzsrgog dugißcög), nicht
zu fleischig, denn das wäre ungehörig, aber auch nicht übermässig mager, denn
das würde ihm ein skelett- oder todtenartiges Ansehen geben. Damit verbinden
wir die Bemerkungen Galen's an einer andern Stelle 3). Wie er aüiznergov
nennt, 61:29 äxaräguv T6511 cixpcov Zoov cinäxst, so bezeichnet er noch besonders
das richtige Verhaltniss der Theile zu einander, auf welches es in dem Kanon
des Polyklet abgesehen sei, als 1d näoov äv äxsivqa 110,5 yävst, als dasjenige MaaSS.
welches je bei einem bestimmten Geschlechte, einem Menschen, einem Pferde,
einem Stiere u. s. w., zwischen den zwei Extremen jedesmal die rechte Mitte
halte. Denken wir dabei an die WVerke Polyklet's zurück, unter denen die
220 Jünglingsgestalten in ruhiger Haltung oder in geringer Bewegung die vor-
nehmste Stelle einnehmen, und hören wir dazu das Urtheil Quintilianls 4): dass
Polyklet das gewichtigere Alter gemieden und nichts über glatte Wangen hin-
aus gewagt habe; so gelangen wir zu dem Schlusse: dass Polyklefs Streben
gewesen sei, absolute, ganz allgemein gültige Regeln über die Proportionen
des menschlichen Körpers in seinem mittleren Durchschnitt nach Grösse, Alter
u. s. w. aufzustellen. Von welcher Art dieselben sein mochten, können uns
am besten die von Vitruv 3) angegebenen Maasse lehren, welche das Verhältniss-
der einzelnen Theile zum Ganzen in festen Zahlen ausdrücken. Er fügt hinzu,
dass die alten Maler und berühmten Bildhauer sich an diese Maasse gehalten
hätten, und es wäre demnach sogar möglich, dass er sie direct von Polyklefs
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