Volltext: Die Bildhauer (Bd. 1)

Die 
Kunst 
griechische 
ihrer 
höchsten 
Entwickelung. 
geistigen 
14-9 
stellte, nach diesem seinem zweiten Vaterlande Argiver genannt wurde, auch 
wenn er in Sikyon geboren war, noch dazu, wenn wir bedenken, wie eng beide 
Städte durch Freundschaft und Verwandtschaft nicht nur in der Politik, sondern 
gerade auch in den Kunstschulen verbunden waren? 
Sehen wir nun weiter, ob die Angaben über die Zeit eine Scheidung in 
zwei Personen nöthig machen. Plinius 1) setzt Polyklet in die 9Oste Olympiade: 
eine Zeitbestimrnung, die offenbar von der Aufstellung der Hera in Argos her- 
genommen ist, deren Tempel Ol. 89, 2 (423 v. Chr.) abbrannte 2). Ausserdein 
nennt ihn Plinius Schüler des Ageladas. Da dieser nun, wie wir gesehen haben, 
noch 01.81, 2 thätig sein konnte, so liegt in beiden Angaben nichts, was sich 
nicht auf eine einzige Person beziehen liesse. Ferner SLIChi. Thiersch einen Stütz- 
punkt für seine Ansicht in einer Stelle des Plinius  in welcher Telephanes 
aus Phokis, der für Xerxes und Darius thätig war, mit Polyket, Myron und 
Pythagoras verglichen wird. Die Reihenfolge dieser drei Namen soll hier in 
der Weise für die Zeitfolge entscheidend sein, dass Polyklet ein Vorgänger des 
Myron und Pythagoras, und mit Telephanes ein Zeitgenosse des Darius ge- 
wesen sein müsse. Allein Plinius behält bei der Zusammenstellung der drei 
Namen unter Ol. 90 eben diese Reihenfolge bei: eben wegen der sicheren Zeit- 
hestimmung des Polyklet durch die Hera in Argos, obwohl die beiden andern 
zu jener Zeit schwerlich noch am Leben waren. Wollte aber Thiersch con- 
sequent sein, so musste er auch aus der Stellung, Xerxis atque Darii, folgern, 
dass hier nicht von dem ersten, sondern von Darius Nothus die Rede sei; und 
er durfte dies mit um so grösserer Wahrscheinlichkeit, als dieser gerade in dem 
Jahre des Tempelhrandes zu Argos zur Regierungikam, Telephanes dadurch 
also recht eigentlich als Zeitgenosse des bekannten Polyklet erscheint.  Nicht 
übersehen dürfen wir endlich, wie häufig und wie eng Phidias und Polyklet als 
Zeitgenossen mit einander verbunden werden, während nach Thiersclfs An- 
nahme Phidias mit den entgegengesetzten Endpunkten seiner Thätigkeit wohl 
diejenige der beiden Polyklete noch berühren, eigentlich aber doch gerade in 
der Mitte zwischen beiden stehen würde. 
S0 viel über die Haltbarkeit der äusseren Gründe, durch welche Thiersch 
seine Meinung zu vertheidigen gesucht hat. Sie soll aber zugleich auf inneren 
Gründen beruhen, nemlich auf der Unmöglichkeit, die verschiedenen Nachrichten 
über die künstlerischen Verdienste und Mängel des Polyklet auf eine und die- 
selbe Person zu beziehen. Ich werde versuchen, den Gegenbeweis zu liefern, 
jedoch nicht auf dem Wege der Polemik, sondern indem ich ein Bild von der 
Persönlichkeit des Polyklet entwerfe. Finden darin alle die verschiedenen An- 
gaben ihre Stelle, ja gewinnt das Bild gerade durch das, was Thiersch als 
widersprechend verwerfen will, erst volles Leben, so hoffe ich, der Widerlegung 
im Einzelnen überhoben zu sein. 
Wir beginnen, wie gewöhnlich, mit der Aufzählung der Werket 
Das Bild der Hera im Tempel bei Argos, aus Gold und Elfenbein, von 
kolossaler Grösse, aber kleinerals die verwandten Werke des Phidias (Strabo VIII, 
p. 372). Die Göttin sass auf einem Throne, die Stirn mit dem Stephanos ge- 
Thuc. 
133.
	        
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