Die
griechische Kunst
ihrer
ichsten
geistigen
Entwickelung.
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chischen Portraits wirklich der Fall ist, doch den Charakter des rein Mensch-
lichen im Gegensatz zum Göttlichen nicht abstreifen kann und darf. S0 bietet
uns denn Phidias die wunderbare Erscheinung dar, dass, wo er in einem
Zweige der Kunst minder Vollkommen erscheinen sollte, der Grund nicht in
mangelnder geistiger Befähigung, sondern in der zu grossen Gewalt und Er-
habenheit seines Geistes zu suchen ist.
YVir haben geglaubt, die Grösse des Phidias im poetischen Schaffen zu-
erst und mit besonderem Nachdruck hervorheben zu müssen. Aber der Genius
mag noch so gewaltig, seine Ideen mögen noch so erhaben sein: um ihnen Ge-
stalt zu verleihen, ist die gründlichste Kenntniss dieser Gestalt selbst die erste,
durch nichts Anderes zu ersetzende Vorbedingung.
Dass nun die Alten gerade dieser Seite des künstlerischen Verdienstes bei 205
Phidias verhältnissmassig so Wenig Erwähnung thun, berechtigt nicht, ihm das-
selbe abzusprechen. Im Gegentheil kann uns eben dieses Schweigen den Be-
weis liefern, dass diese Vorbedingung in ihrem höchsten Sinne erfüllt sein musste;
in dem Sinne nemlich, dass, wo die Idee, wie bei Phidias, künstlerische Ge-
stalt angenommen hat, auch die höchste Vollendung der Form nicht als ein
selbstständiges Verdienst hervortritt, sondern nur als ein Ausfluss der Ideen
selbst erscheint. Und in der That bewundern wir an den aus seiner Werkstatt
hervorgegangenen Gestalten vorzugsweise nicht sowohl einzelne Schönheiten,
als die ganze Schöpfung. Denn nicht die Natur nachgebildet, ihr nach-
geschaffen hat Phidias. Die neuere Naturwissenschaft betrachtet es als einen
ihrer schönsten Triumphe, dass es ihr gelungen, aus den fossilen Resten ur-
weltlicher Thiere uns die Natur derselben mit wissenschaftlicher Sicherheit wieder
vor Augen zu führen, diese Thiere in der Idee wieder zu schaffen. Sie bildet
ex ungue leonem. Aehnlich Phidias: denn er ist es, auf den die Entstehung
dieses Sprüchwortes zurückgeführt wird, indem er einzig aus der Klaue be-
stimmte, wie der ganze Löwe, dem sie angehörte, erscheinen musstel). Mag
diese Erzählung immerhin das Gepräge einer Anekdote tragen: für die Art und
Weise, wie Phidias die Natur anschaute, legt sie uns ein gewichtiges Zeugniss
ab. Denn sie liefert uns den Beweis, dass Phidias, wie er vermöge seiner idealen
Richtung darauf hingewiesen war, Gestalten von einem vollkommenen, makel-
losen Organismus zu schaffen, so auch bei dem Studium der Form vor Allem
den organischen Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen in's Auge
fasste. In welcher bestimmten Weise sich nun dieses Studium in den Werken
des Phidias oifenbarte, bezeichnen die Alten mit einem einzigen Worte. Dio
Chrysostomus 2) lässt den Phidias sagen, er unterscheide sich von seinen Vor-
gängern xard rljti oixotßezav 127g; rtotijoscog, und in dem schon oben angeführten
Urtheile des Demetrius 3) wird als Kennzeichen der NVerke des Phidias ausser
dem iteyaksiov, der Grossartigkeit, auch rö dxotßäg. äyoc hingestellt. Wir ver-
mögen diesen Ausdruck mit einem XVorte nicht zu übersetzen. "Zierlichkeit 207
der Ausführung im Detail" ist eine Uebertragung, welcher gerade n) räxgtßäg
abzugeben scheint. Eher könnte man von Sauberkeit der Ausführung sprechen,
in sofern wir (larunter eine solche Verstehen, welche von allem Ungehörigen ge-
n. 54. 2) Or. XII, p.
griechischen Künstler. 2.
1) Lucian. Herm(
Brunn, Geschichte der
210.
Aufl.