Volltext: Die Bildhauer (Bd. 1)

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Bildhauer. 
erkennen will, Während wir doch als das Hauptverdienst seiner Werke die lebens- 
vollste Naturwahrheit erkannt haben. Wir zeigten, dass dieselbe auf der schärfsten 
Auffassung aller Bewegungen nach ihren strengen organischen Gesetzen be- 
1-55 ruhte. Gerade damit aber mochte eine grosse Zartheit und Weichheit minder 
verträglich sein. Denn wenn freilich dem äusseren Sinne diejenige Behandlung" 
der Oberfläche des Körpers am meisten schmeicheln wird, welche die Schärfen 
in den Uebergängen der Muskeln durch eine sorgfältige Berücksichtigung: der 
nicht lehensthätigen Haut und der darunter liegenden"Fetttheile vermittelt und 
ausgleicht, so verzichtete llrlywon vielleicht absichtlich auf diese Reize, um die 
scharf atbgegicenzten Wirkungen eines einzigen Augenblickes auf alle bei der 
Bewegung- betheiligten Glieder des Orgranismus ungt-zschwächt zur Anschauung; 
zu bringen. Wie aber ein durch Süssigkeit verwöhnter Gaumen einen herben 
Wein verachtet, so musste ein durch die Weichheit prztxitelischer Gebilde ver- 
wöhnter Kunstgeschmack an der Herbigkeit und Strenge eines Myron noth- 
wendig Anstoss nehmen. Cicero selbst ist nicht ganz ohne Sinn für diese Vor- 
züge der älteren Kunst, wie er denn z. B. seine Freude an dem punischen 
Kriege des Naevius mit der an einem Werke des Myron vergleichtl). Aber 
"seinen Zeitgenossen gegenüber wagt er kaum die Kunst eines Polyklet als in 
allen Beziehungen vollendet hinzustellen. 
So hat sich uns denn aus diesen Betrachtungen ein ziemlich vollständiges 
Bild der künstlerischen Individualität des Myron ergeben, bestimmt genug: um 
ihn von seinen Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern zu unterscheiden. 
Unter denselben scheint ihm noch am meisten Pythagoras verwantlt gewesen 
zu sein, wie es schon der Wettstreit zwischen ihnen und das Voruiegen ath- 
letischer Bildungen bei beiden andeutet. Auch wegen der Symmetrie wird dem 
einen, wie dem andern Lob gespendet; und mit Nachdruck haben wir auf die 
Natuiwahrheit in den Werken beider Künstler hinweisen müssen. Gerade hierin 
aber zeigt sich, sobald wir dieselbe näher zu bestimmen suchen, eine Grund- 
verschiedenheit in den Ausgangspunkten und Hauptrichtungert. YVir sprachen 
unsere Ansicht dahin aus, dass Pythagoras von dem Studium einzelner Theile, 
der Nerven, der Adern, des Haares ausgegangen, von der Betrachtung ihrer 
äusseren Erscheinung aber auf die Erforschung" ihrer inneren Natur, ihres Zu- 
156 sammenhanges unter einander hingeleitet worden, und dadurch erst zur Er- 
kenntniss der richtigen Verhältnisse und der rhythmischen Verbindung der Theile 
gelangt sei: Myron scheint gerade den umgekehrten Weg eingeschlagen zu haben. 
Die Vernachlässigung des Haares kann uns als Fingerzeig dienen, dass eine 
blosse Nachahmung der Natur im Einzelnen für Myron nur geringen Werth 
hatte. Bei ihm ist es immer der scharf abgegrenzte Moment der Handlung, aus 
dem heraus sich das ganze Werk in allen seinen Theilen entwickelt. Zu diesem 
Zwecke musste der Künstler von der Beobachtuirg der Natur in ihrer lebendigen, 
bewegten Erscheinung' ausgehen und im Stande sein, auch den flüchtigsten Mo- 
ment in seinem Grundmotiv zu erfassen. Aber gerade je tltichtiger der Moment, 
desto mehr war für die künstlerische Benutzung desselben eine tiefe Kenntniss 
sowohl der Form an sich, als des Verhältnisses der Formen unter einander noth- 
Brut.
	        
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