Bildhauer.
druck nicht zur Darstellung (corporum tenus curiosus animi sensus non ex-
pressisse). Diese mehr negativen Angaben gewähren uns die Möglichkeit, das
149 Verdienst, welches wir so eben dem Myron zuerkannt haben, schärfer zu be-
grenzen. Das Haar hat zwar in vieler Beziehung nur eine untergeordnete Be-
deutung: dennoch aber liefert die Vernachlässigung desselben den Beweis, dass
Myron nicht bei der Bildung jedes einzelnen Theiles nach jener oft äusserlichen,
täuschenden Natürlichkeit strebte, welche den Stoff des Kunstwerkes vergessen
machen möchte. Dass er deshalb überhaupt nicht von äusserlicher Natur-
beobachtung ausgehen konnte, werden wir später noch nachdrücklicher hervor-
zuheben Gelegenheit haben. Durch die zweite Angabe scheint Plinius anzu-
deuten, dass die Kunst des Nlyron noch nicht auf dem Höhepunkte angelangt
sei, wo in dem Ausdrucke des Kopfes, als des vorzüglichsten Körpertheils, das
ganze innere YVesen des Menschen wie in einer Spitze vereint zur Anschauung
kommt, wo in dem Ausdrucke des Kopfes auch die Bedeutung der Handlung
des Körpers zusammengefasst erscheint. Neben dieses Zeugniss des Plinius
stellen sich nun aber zwei andere, die bei oberflächlicher Betrachtung" sich in
offenem Widersprüche gegen dasselbe befinden. Der Auctor ad Herennium 1)
"lobt, wie an den Werken des Praxiteles die Arme, an denen des Polyklet die
Brust, so an denen des Myron vor Allem den Kopf. Und Petronius 9) urtheilt
von Myron, dass er paene hominum animas ferarumque aere comprehendit.
YVollen wir noch mehr, so dürfen wir nur den Kopf an der Copie des Disko-
hols im Palaste Massimi zu Rom betrachten. "Das Gesicht ist eines der schönen,
klugen und feinen attischen, deren man im Panathenaeenzuge des Parthenon
so viele unter einander verwandte nicht müde wird zu betrachten. Der Aus-
druck scheint auf die strenge Zucht vieler Palaestriten zu deuten, im Gegen-
satze der weichlichen Jugend." Dieses Urtheil Welckers 3) wird gewiss jeder,
der das YVerk selbst zu sehen Gelegenheit hatte, gern unterschreiben. In dem-
selben liegt aber auch schon die Lösung des oben berührten scheinbaren Wider-
spruches verborgen. Es ist nicht eine bestimmte Individualitätt, die uns in diesem
Kopfe anzieht, ja zur Begeisterung hinreissen kann, sondern die Reinheit des
Typus einer ganzen Klasse. Ja man kann noch weiter gehen und behaupten,
150 es liege gerade darin für uns die Anziehungskraft, dass, bei dem Mangel eines
bestimmten, individuellen Ausdrucks und bei der verhältnissmässig geringen
geistigen Bedeutung der Handlung, dennoch in diesem Kopfe sich ein sehr hoher
Adel ausspricht. Dieser beruht aber eben sowohl in der vollkommenen phy-
sischen Ausbildung des Baues, als besonders noch in dem Hauche des Lebens,
der alle Formen durchdringt. Animi sensus non expressit, aber animam aere
comprehendit. Denn animus est quo sapimus, anima qua vivimus-l). Animus
ist das geistige, anima das physische, animalische Leben. Erst jetzt werden
wir auch richtig verstehen, was an der Statue des Ladas so bewundernswürdig
befunden ward: nicht sowohl der geistige Ausdruck, als der Ausdruck des Le-
bens, dessen letzter Rest nur noch als ein flüchtiger Hauch auf den Lippen zu
schweben schien.
Aber, müssen wir jetzt weiter fragen, ist es möglich, einen so bedeut-
Denkm.