Grössere
Entwickelung.
Ausbreitung und Streben nach freier
von O1.
auch das YVohlgeordnete und Anständige (sziomltäg xai xöoiuov) der Gewandung
nehme man von der Sosandra, nur dass unser Ideal das Haupt unverhüllt haben
Soll." Ihre wahre Bedeutung gewinnt aber diese Schilderung, wenn wir ver-
gleichen, was an den Werken anderer Meister vorzugsweise gelobt wird: an der
Venus des Praxiteles das Haar, die Stirn, die Zeichnung der Augenbrauen nebst
dem schwimmenden Ausdrucke der Augen; an der Venus des Alkamenes die
Wangen, die Ansicht des Gesichtes von vorn. dann die Extremitäten, Hände
und Füsse; an der lemnischen Athene des Phidias der Umriss des Gesichts,
die Weichheit der Wangen, die Proportion der Nase, an seiner Amazone der
Mund und der Nacken. Alle diese Lobslnrüche nun beziehen sich auf einzelne
Theile des Körpers oder, strenger genommen, auf die Formen derselben, das
Lob der Sosandra dagegen auf den Gesammtausdruck, die ganze Haltung. Selbst
bei der Gewandung ist es nicht die Feinheit der Ausführung, der schöne Bruch
der Falten, was hervorgehoben wird, sondern das Einfache, Ungeschmückte, und
man möchte es auch hier wiederholen, das Keusche der Anordnung. Jenes
züchtige Lächeln aber, erinnert es uns nicht an die milde Grazie derjenigen
Werke der neueren Kunst, welche der höchsten Entwickelung derselben zu
Raphaels Zeit vorausgehen? Würden wir nicht den Ausdruck in den Werken
eines Perugino, Francia, oder um auch von der Sculptilr zu reden, eines Mino
da Fiesole als ein peröiuiza osyvdv xczi Äshyädg bezeichnen können? Diese
Künstler aber ringen nicht weniger mit der Freiheit der Form, als Kalamis, von
dem Cicero 1) und Quintilian 2) sagen, seine Werke seien zwar weicher, als die
des Kanachos, aber keineswegs frei von Härte.
Was also in der Erzählung des Plinius ein Widerspruch zu sein schien,
das vereinigt sich schliesslich, um uns von der Eigenthümlichkeit des Kalamis
ein lebendigeres, anschaulicheres Bild zu gewähren. Kalamis, der in der Bildung
der Rosse seinem künstlerischen Gefühle freien Lauf lassen darf und desshalb 131
die Stufe hoher Vollendung erreicht, lässt sich in der Bildung der Menschen-
gestalt durch die Vorurtheile, das Herkommen seiner Zeit noch Fesseln anlegen.
Aber so wie in einer Zeit, welche dem Verfalle der Kunst durch die Rückkehr
zur Kindheit derselben einen Damm entgegensetzen will, der Künstler sich nie
die alte Einfalt ganz anzueignen vermag. sondern sich durch eine Menge einzelner
Züge verrathen wird, welche nur einer vollkommen ausgebildeten Kunst an-
gehören können, so wird in einer Zeit, welche einer höheren Entwickelung zu-
strebt, trotz alles Festhaltens am Hergebrachten der Künstler sich getrieben fühlen,
auf die Verfeinerung, sei es der Form, sei es, des Ausdrucks, eine stets wachsende
Sorgfalt zu verwenden. In welcher Richtung dies bei Kalamis der Fall war, ist
bei Gelegenheit der Worte Lucians bereits angedeutet. Eine weitere Bestätigung
gewährt uns Dionys von Hztlikarnass. In seiner Schrift über Isokrates 3) ver-
gleicht er diesen Redner mit Phidias und Polyklet in Hinsicht auf Ernst, Würde
und Erhabenheit, und setzt ihn dem Lysias entgegen, der wegen seiner Zierlich-
keit und Anmuth (nig Äemdrryrog ävsxa xai rrjg XCÄQLTOG) mit Kalamis und Kalli-
machosrl) auf einer Stufe stehe: jene seien glücklicher im Grossartigen und
bei
1) Brut. 18. 5') XII,
Gregor von Nazianz (in
10, 7. 3) p. 95 Sylb.
Tollii Itiner. It-a]. p. 66)
4) Diese beiden Künstler werden auch
zusammengestellt, wo offenbar für den