LEBEN DES MICHEL ANGELO BUONARROTI.
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beschreibt, im Stimpfe des Acheron, welcher das Ruder erhebt,
um nach jeder Seele zu schlagen, die sich lässig erwiese, und
wie der Kahn an's Ufer gelangt, sieht man alle jene Seelen um
die Wette aus dem Kahne herausstürzen, aingespornt von der
göttlichen Gerechtigkeit, so dass, wie der Dichter sagt, die Furcht
sich in Begierde wandelt. Haben sie dann von Minos das
Urthieil erhalten, so werden sie von bösen Geistern nach der
linstern Hölle gezerrt, woselbst man Wunderbare Geberden
der schmerzlichen und verzweifelten Gefühle sieht, wie sie der
Ort verlangt. Rings um den Sohn Gottes, in den Wolken des
Himmels, in dem mittleren Theile, bilden die schon auferstandeneil
Seligen einen Kranz und Krone, aibgesondert aber und dem
Sohne zunächst ist seine Mutter, sich so viel sie kann an
ihn schmiegend, gleichsam als ob sie erschreckt und vor dem
Zorne Gottes und seines Geheimnisses nicht sicher wäre. Nach
ihr der Täufer und die zwölf Apostel und die Heiligen Gottes,
ein Jeglicher dem furchtbaren Richter jenes Werkzeug vorweisend,
durch welches er, du er seinen Namen bekannte, des Lebens
beraubt wurde. Sanct Andreas das Kreuz, Sanct Bartholomäitis
die Haut, Sanct Lorenz den Rost, Sanct Sebastian die Pfeile,
Sanct Blasius die eiserne Hechel, die heil. Katharina das Rad,
und andere Dinge, durch die sie von uns können erkannt
werden. Oberhalb dieser, auf der rechten und linken Seite, in
dem oberen Theile der Wand, sieht man Gruppen von Engelein
in alnmuthigen und erlesenen Geberden, die im Himmel das
Kreuz des Sohnes Gottes, den Schwamm, die Dornenkrone, die
Nägel und die Säule, an der er gegeisselt wurde, atllweisen, um
den Schuldigen die Wohlthaten Gottes vorzuhalten, deren sie
vergessend und höchst undankbar gewesen sind, und um die
Guten zu stärken und ihnen Zuversicht einzullössen. Es gibt
da unzählige Einzelnheiten, die ich mit Schweigen übergebe.
Genug, dass, ausser der göttlichen Compositionl der Historie,
1 Das "jüngste Gericht" Michcl Angelds wurde enthüllt am 25. De-
cember 154i; mit diesem grossen Werke beschäftigte sich Michcl Angelo
seit 1534. Aus Condivi, Vasari, Varchi und anderen Zeitgenossen erfahren
Wir, dass dieses Gemälde den grössten Enthusiasmus erregte. Niccolo
Marleili feierte es in einem Gedichte, das Michcl Angele mit einem Dank-
schreiben erwiderte. Das Werk ist heute, was es schon seiner Zeit war, ein