LEBEN DES MICHEL ANGELO BUONARROTI.
an der Tafel sass, dass der Wegen keines Menschen, der später
käme, und wäre er noch so vornehm, sich vom Platze rührte.
XII. Lodovico, der Vater des Michel Angelo, jetzt schon
mit dem Sohne mehr befreundet, als er ihn so fast be-
ständig mit vornehmen Leuten verkehren sah, stattete ihn
besser und anständiger aus mit Kleidern. S0 blieb der Jüngling
einige Monate bei Piero und wurde von demselben sehr werth
gehalten, der sich zweier Leute aus seinen Hausgenossen zu
rühmen pflegte als seltener Menschen, deren Einer Michel Angelo
war, der Andere ein spanischer Läufer, welcher, ausser seiner
Leibesschönheit, die wunderbar war, so geschickt und stark War
und von so guter Lunge, dass, wenn Piero zu Pferd mit ver-
hängtem Zügel einhersprengte, er Jenen doch nicht um eines
Fingers Breite überholte.
XIII. In dieser Zeit machte Michel Angelo aus Gefälligkeit
gegen den Prior von S. Spirito, einer der geehrtesten Kirchen
in Florenz, ein CrucifuH aus Holz, von nicht viel weniger als
Lebensgrösse, das man bis heutigen Tages über dem Haupt-
altar besagter Kirche sieht. Er stand mit besagtem Prior in
einem sehr vertrauten Verkehr, da er von ihm nicht nur viele
I-Iöflichkeiten empfing, sondern auch mit einem Zimmer und
Leichen versehen wurde, um Anatomie treiben zu können?
1 Dieses Crucifix des Michel Angele, ursprünglich in der Kirche S.
Spirito, befand sich Ende des verflossenen Jahrhunderts in dem zur Kirche
gehörenden Kloster der Eremitancr. Nach der Aufhebung dieses Klosters zur
Zeit der Herrschaft der Franzosen ist es verschwunden und bisher nicht wieder
aufgefunden worden. Wie bei Condivi, so wird überall diese Kirche mit
Auszeichnung genannt; 1292 gegründet, wurde sie nach dem Brande von 1471
nach den Plänen des Filippo Brunelleschi neu gebaut. Brunelleschi erlebte die
Vollendung nicht; seine Nachfolger im Baue machten Veränderungen, welche
eine strenge Kritik nicht vertragen. Trotzdem zeigt sie noch heute grosse
architektonische Schönheiten und enthält prachtvolle Werke, insbesonclers der
monumentalen Sculptur.
2 Ueber die anatomischen Studien des Michel Angelo berichtet Condivi
später im C. LVI und LX in eingehender Weise. Auch Vasari betont die
anatomischen Studien Michel Angelds. In der Oxforder Sammlung ist einelland-
Zeichnung Michel Angela's (Nr. 50), Welche die Section einer auf einem Tische
liegenden Leiche und zwei Männer (darunter Realdo Colombo?) zeigt. Siehe
ferner Choulant "Geschichte der anatomischen Abbildungen", Leipzig 1852,
p. 10 bis 20, und Dr. Henke „Die Menschen des Michel Angele im Ver-
hältniss mit der Antike", Rostok 1871.