LEBEN DES MICHEL ANGELO BUONARROT I.
der nicht Bürger war, kam Ludwig, der Vater des Michel
Angelo, den Erlauchten aufzusuchen, und verlangte sie mit
diesen Worten: „Lorenzo, ich kann nichts anderes, als lesen
und schreiben. Da nun der Compagnon des Marcus Pucci im
Zollamt gestorben ist, so wäre es mir lieb, an seine Stelle zu
treten, da es mir scheint, ich könnte zu einem solchen Amte
hinlänglich taugen." Der Erlauchte legte ihm die Hand auf die
Schulter und sagte lächelnd: „Du wirst immer arm bleiben,"
Wobei er erwartete, dass er ihn um etwas Grösseres angehen
werde. Dann fügte er hinzu: „Wenn Ihr mit Marcus in Compag-
nie sein wollt, so könnt Ihr es thun, bis sich Gelegenheit zu
etwas Besserem findet." Das Amt trug acht Scudi ein im Monat,
etwas mehr oder weniger.
X. Währenddem betrieb Michel Angelo seine Studien,
und wies dem Erlauchten alle Tage irgend eine Frucht seiner
Bemühungen vor. Es wohnte in demselben Hause Poli-
zian0,' ein, wie ein Jeder weiss und wie es seine Schriften
reichlich bezeugen, höchst gelehrter und scharfsinniger Mann.
Dieser, der des Michel Angelo erhabenen Geist erkannte, liebte
ihn sehr und spornte ihn immerfort an zum Studium, obgleich
es nicht nöthig war; immer erklärte er ihm etwas und hatte
immer eine Arbeit für ihn. So schlug er ihm unter Anderem
eines Tages den Raub der Dejaneira und den Kampf- der Cen-
tauren? v_0r, indem er ihm Stück für Stück die ganze Fabel er-
klärte. Michel Angelo machte sich dran, sie als Halbrelief in Marmor
auszuführen, und die Unternehmung glückte ihm so Wohl, dass
ich mich erinnere, ihn sagen gehört zu haben, dass, so oft er
1 Angelo Poliziano (eigentlich Angele Cino), geboren x454 zu Monte
Pulciano, Lehrer im Hause des Lorenzo Medici, Professor der lateinischen und
griechischen Sprache, einer der einüussreichsten Humanisten seiner Zeit,
starb 1494..
2 Das Basrelief der "Kampf der Centauren" befand sich schon zu VasariXs
Zeiten in der Casa Buonarroti in Florenz. Es ist, wenn auch sehr ungenügend,
abgebildet bei Cicognara. "Storia della scultura", Prato i8z4, Taf. LIX. Ueber
die Bedeutung dieses Jugendwerkes von Michel Angele, die dramatische
Gewalt, die in der Composition liegt, das Studium der Antike, welche es
zeigt, sind alle Hauptschriftsteller Einer Ansicht. „N0n par di mano di ginvane",
Sagt Vasari (S. 164), ma di maestro pregiato e consumato ncgli studie pratico
di quell' arte."