LEICHENREDE DES B.
VARCHI.
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die Augen." Hierauf wird das Programm des Sermons entwickelt
und vorgelegt. Auf pag. 11 beginnen die biographischen Nach-
richten in folgender Weise:
„Seinem Vater Lodovico, welcher von der sehr alten und
edelsten Familie der Grafen von Canossa abstamrnte, wurde von
seiner ehrenwerthen und würdigen Gemahlin unter dem glücklichsten
Sterne in Casentino, wo er eben Podesta war, dieser gesegnete
Sohn in der Sonntagsnacht am 6. Tag des Märzes, des Jahres
unseres Heiles 1474, um die achte Stunde geboren. Da er mit
mehrerer Sorge auf den Adel seiner Vorfahren als auf seine gegen-
wärtigen beschränkten Verhältnisse blickte, entschloss er sich, den-
selben den Wissenschaften zu Widmen, weil er seit den ersten und
zartesten Jahren die Grösse seines alle Dinge umfassenden Genius
erkannte. Wenngleich dieser nun unter dem Meister Francesco
da Urbino, seinem Lehrer, nicht wenig in den Anfangsgründen
des Studiums prolitirte, so wurde er doch vom lltltüfllChCn
lnstincte geleitet, und gebrauchte, seinem glücklichen Genius
folgend, die Feder mehr zum Zeichnen als zum Schreiben,
wobei er nicht Fratzengesichter entwarf, wie die Kinder zu thun
pflegen, sondern Figuren. Jene, die es wissen, sagen, dass er
seit frühester Kindheit, wenn er das ABC lesen lernte, sich
auf seiner Tafel des Stäbchens bediente, um die Buchstaben
nachzubilden, nicht um daraufzuzeigen. Der Vater, ein guter
Mann, welcher (wie die meisten guten Leute zu sein pflegen)
in den Dingen der Welt geringe Gewandtheit besass, hatte,
indem er keinerlei Beruf ausübte, ein kleines Einkommen
und grosse Familie. Er erkannte, dass gegen den Willen des
Himmels von Seite der Menschen nichts geschehen kann und
kein Widerstand geleistet werden dürfe, und fasste daherbei sich
selber einen Entschluss. Er hatte aus vieler Erfahrung bemerkt,
dass der Knabe viel lieber in die Kirchen ging, um die Malereien
imchzuzeichnen, als in die Schulen, um Grammatik zu lernen,
ebenso, dass er häufig aus der Schule lief, um dahin zu gehen, wo
er Malen zusah, dass er viel lieber sich mit Jenen übte, welche
zeichneten, als mit Denen, welche studirten. Er sammt seinen
Oheimen, welche sich ob einer solchen Kunst entsetzen, gleichsam
als wenn das Malen nichts Anderes wäre denn Mauerbeklecksen,
schalten und schlugen ihn oftmals vergebens; endlich brachte er