LEBEN
DES MICHEL
ANGELO
BUONARROTI.
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wäre vom, Sokrates auf das Keuscheste geliebt worden, so dass
er zu sagen pflegte, er erhebe sich von seiner Seite, wenn er
sich neben ihn gelegt hatte, nicht anders, als von der Seite seines
Vaters. Ich habe den Michel Angelo zu öftern Malen selber
über die Liebe sprechen und sich unterreden hören, und habe
dann auch von Jenen gehört, die anwesend waren, dass er von
derLiebe nicht anders gesprochen, als davon im Platon' geschrieben
steht. lch meinestheils weiss nicht, was Platon darüber sagt,
aber ich weiss wohl, dass, nachdem ich so lange und innig mit
ihm verkehrt habe, ich aus seinem Munde nichts als die ehrbarsten
Reden habe hervorgehen gehört, Welche wohl die Kraft hatten,
in der Jugend jede wüste und zügellose Begierde auszulöschen,
die in derselben entstehen mochte. Und dass in ihm keine häss-
lichen Gedanken auftauchten, kann man auch daraus erkennen,
dass er nicht allein die menschliche Schönheit geliebt hat,
sondern überhaupt jedes schöne Ding, ein schönes Pferd, einen
schönen Hund, eine schöne Gegend, eine schöne Pllanze, einen
schönen Berg, einen schönen Wald und jegliches Ding, das
in seiner Art schön und ausgezeichnet war, was er dann mit
Wunderbarer Erregung bewunderte, wobei er das Schöne der
Natur gleichermassen auswählte, wie die Bienen die Süssigkeit
der Blumen einsammeln, um sich ihrer dann zu ihrem Werke
zu bedienen, was auch stets alle Jene gethan haben, die in
der Malerei einigen Ruf gehabt. Jener alte Meister, als er eine
Venus machen wollte, begnügte er sich nicht damit, eine einzige
Jungfrau zu sehen, sondern wollte viele derselben betrachten,
und sie zu seiner Venus benützen, indem er von jeder den
schönsten und vollendetsten Theil nahm. Und in der That, wer
da glaubt, er könne ausserhalb dieses Weges (auf dem man
1 Diese Stelle, bezeichnend für die geringe gelehrte Bildung Ascanio
Condivfs, beweist, wie einflussreich Plato und die neuplatonisclae Schule
Marsilio Ficinds auf die Künstler des XVI. Jahrhunderts gewesen ist. S0
fern ihnen Aristoteles stand, so befreundet waren sie mit Plato. Die Schriften
fast aller über Kunst philosophirelnlen Schriftsteller klingen an die Ausdrucks-
weisen Platds an. Condivi vertheidigt hier Michel Angelo lebhaft
gegen Vorwürfe, die Anhängern Platds in der Zeit Michel Angelds gemacht
Wurden. Ob diese Vcrtheidiguxig auch auf das Sonett an Gandolfo Porsino,
Und die Grabschrift auf die Mancina, "an der ein anständiger Mensch nichts
als ihre Schönheit zu loben fand", sich bezieht. bleibt dahingestellt.