74
Zur Natur und Geschichte der holländiscl
Kunst.
Malerei des sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts lehnen
diese Darstellungen jedes Streben nach stylistischer Anordnung
und klassischer Formenvollendung ab und suchen den Gegen-
stand, rein thatsächlich, im Sinne charakteristischer und realisti-
scher Kunstrichtung auszugestalten. Da hierin unzweifelhaft ein
Gegensatz gegen die katholische Auffassung liegt, und da Rem-
brandt Protestant war, so hat man gemeint, jene Darstellungen
seien eigentlich Denkmäler protestantischer Kunst und als solche
von der grössten kunstgeschichtlichen Bedeutung. Wenn ich
nicht irre, ist diese Ansicht zuerst von Ernst Guhl ausge-
sprechen 1), aber sie ist von den Nachsprechern stark übertrieben,
und hierdurch ist der Sachverhalt mehrmals schon gänzlich
verschoben worden. Denn aus der religiösen oder gar kon-
fessionellen Gesinnung Rembrandtls ist die künstlerische
Eigenthümlichkeit dieser Darstellungen nicht zu verstehen.
Diese erklärt sich vielmehr nur, und zwar aufs einfachste, aus
der ganzen Kunstrichtung der holländischen Malerei. Was
wir überall sehen, beim Bildniss, bei den Landschaften, bei
den Gattungsbildern, es ist auch hier wirksam: die Elemente
der Charakteristik und der Stimmung, getragen durch die
unmittelbarste Anlehnung an die Wirklichkeit, und unbeeinflusst
durch irgend ein Streben nach formaler Schönheit Dass das
letztere auch hier gänzlich fehlt, und dass an Gestalten, wo
wir schöne Formen zu sehen gewohnt sind, oft die sonder-
barsten Hässlichkeiten und Gewöhnlichkeiten vorkommen,
beweisen gerade eben Rembrandfs neutestamentliche Darstel-
lungen aufs deutlichste. Diese Darstellungen liegen also ganz
innerhalb der itatürlicluen Grenzen der nationalen Malerei in
Holland. Aber es ist wahr, dass fihnen ein Zug dichterischer
Erfindung eigen ist, der sich sonst in den Werken der hollän-
dischen Malerei nur selten findet und der allein dem Genius
des grossen. Meisters entstammt. Aber auch dieser Zug hat
mit der Religion oder gar mit der Konfession nichts zu thun.
Man blättre doch nur einmal, was man ja an vielen Orten
leicht kann, die neutestamentlichen Radirungen Rembrandfs
durch: wo ist da irgend ein Anhalt, um diese Werke konfes-
Künstlex
Briefe.
oder
2_15f6
Aufl.
200-