STATUEN FÜR DIE NISCHEN etc.
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haben: von einem solchen Ehrenmanne begreife ich es
wohl, dass er hat ein Evangelium schreiben können!" Nichts
lag dem Michelangelo ferner als Spott, wie Hermann Grimm
meint. In der That konnten keine Worte den Charakter dieser
Statue besser bezeichnen; in diesen emporgezogener. Brauen,
den starken Augcnbrauenbogen, den tiefliegenden Augen mit
den fest und ernst aufwärts gerichteten Blicken spricht sich
das Denken des ideenreichen Philosophen aus. Dieser Ausdruck
wird unterstützt durch den fest und ernst geschlossenen Mund,
sowie den zugleich ehrwürdig und phantasievoll das Gesicht
umrahmendcn Vollbart. Dieser Kunst der Congruenz des Aus-
drucks zwischen Mund und Augenpartie, ein Geheimniss der
Portriit- und Charakter-Darstellung, zeigt sich Donatello hier
in hohem Grade mächtig. Hiezu kommt menschenfreundliche
Milde, welche sich besonders in der edelgeformten, feingeboge-
nen Nase, in dem freundlichen Zug an deren Winkeln, sowie
in dem Schatten der Wange ausspricht. Griechischer Adel belebt
das ganze Antlitz. Die edelsten, feurigsten und feinsten Linea-
mente, die wundervollste, schwunghafteste Stylisirung der Haar-
partien vereinigen sich hier mit sprcchendem Leben, sorgfäl-
tiger Naturwahrheit und vorzüglicher wirkungsvoller Technik.
Dem läntlitz entpricht die ganze edle und ruhige Haltung und
Bewegung der Statue, der Fall ihres Gewandes. Die Statue
ruht auf dem rechten Fuss und blickt etwas nach links. Der
rechte Arm fällt gerade herunter mit einer solchen Leichtig-
keit und Natürlichkeit, wie sie einer solchen einfachen, Linge-
suchten Haltung wenige Künstler zu geben vermochten. Die
schreitende Bewegung des andern Beines ist ebenso trefflich
unter den naturwahrsten und doch stylistisch gewählten Falten
des Gewandes aiusgecirticltt, wie die gerade Stellung des Stand-
beines durch gerade her-abfallende Falten. Mit der linken Hand
hält die Figur ihr Evangelium vor dem Schenkel, auf welchen
sie es leicht stützt. Wie das Antlitz, so sind die Hände mit
einem meisterhaften Leben und Noblesse ausgeführt, obwohl
man noch die einzelnen Meisselhiebe daran erkennen kann. Die
ganze Statue ist ein erstes Meisterwerk der Sculptur aller
Zeiten; die Griechen selbst würden davor bewundernd stillge-
standen sein, und die enthusiastischen Lobeserhebungen, welChß