Die Temperamente.
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auf der Höhe feiner fchöpferifchen Kraft, wie feiner tech-
nifchen Vollendung zeigen. Es find: die Melancholie, der
heilige Hieronymus in feiner Zelle, oder wie Dürer fagt
xim Gehäusr, beide von 1514 und der ßReiterc, gewöhn-
lich genannt: Ritter, Tod und Teufel, von I 5I 31). Es
fmd dies jene Blätter Dürers, die zu allen Zeiten und
heute noch am meiften bewundert und gefchätzt werden,
obwohl ihre Bedeutung ftets unenträthfelt und zweifelhaft
geblieben ift.
Was, abgefehen von den höchften künftlerifchen Quali-
täten, jene Blätter populär macht, ift die tiefe nationale, die
noch tiefere allgemein menfchliche Empfindung, in der fie
empfangen, aus der {ie heraus erzeugt find. Das Entgegen-
kommen diefes Gefühles bringt fie dem Verftändniffe näher,
als es eine fachliche Erklärung aller Einzelheiten vermöchte.
Sie athmen etwas von dem Gewiffenskampfe, den das
deutfche Volk eben durchzumachen {ich anfchickte, der
feitdem keinem von uns erfpart blieb. Und diefe Stimmung
ift allerdings eine durchaus moderne; zumal diefelbe durch
die vornehmfte Dichtung unferer Litteratur verewigt worden
ift. Es ift das fauftifche Element jener Zeit, das uns aus
diefen Darftellungen, felbft aus deren fpecififchen Zuthaten
entgegenweht und uns unwiderftehlich anzieht. Goethe hat
uns gerade diefe Seite von Dürers Zeitalter wieder recht
nahe gebracht. Wir errathen unbewufst die höhere innere
Wahrheit und erkennen in jenen Kupferftichen eine Illu-
ftration zu den geiftigen Strömungen der Reformations-
epoche.
Das geflügelte Weib, das düPcer fmnend dafitzt zwifchen
allen erdenklichen, zerflreut umherliegenden Werkzeugen der
Arbeit, der Kunft und Wiffenfchaft fie hat die Wange
in die linke Hand gePcützt, den Lorbeerkranz über dem
1) Bartfch Nr. 74, 60 u. 98. A,
Springer, Bilder aus der neueren
Kunflgefchichte, 200, erklärte zuerft
mit Beftimmtheit den Hieronymus als
Seitenßück der Melancholie, Vergl,
die gründliche Unterfuchung über die
Bedeutung des letzteren Blattes bei
M, Allihn, Dürer-Studien 95.
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