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Venedig
Aufenthalt
zweite
Der
Die Zeit, da Dürer Lernens halber Venedig aufgefucht
hatte, war feit einem Jahrzehnt vorüber, als er, ausgeglichen
mit fich felbft und mit den Beftrebungen Anderer, in be-
wufster Zuverficht dahin zurückkehrte. Dazwifchen lag ein
fchweres Ringen nach Wahrheit, ein Kampf um die Ge-
ftaltung des Höchften und Beften, wie ihn nur je eine
Künftlerfeele gekämpft hat. Und zwar fällt der Klärungs-
procefs, der Dürer plötzlich zur völligen Selbftändigkeit, zur
klaren Erkenntnifs feiner künftlerifchen Sendung erhebt,
gerade in das Jahr 1503, ohne an irgend welche äufsere
Lebensverhältniffe anzuknüpfen. Allerdings mochte der Tod
des Vaters am Ende des Vorjahres, der Dürer fo fehr er-
fchütterte, feine Einkehr in {ich felbft mit veranlafst haben.
Im Ganzen aber gefchah wohl die Umwandlung und Ver-
tiefung feines Wefens von innen heraus unter jenen Seelen-
ftürmen, welche prophetifche Naturen zuweilen durchzumachen
haben, bevor {ie zur Sammlung und Klärung aller ihrer
Kräfte durchdringen; und wie dies wohl auch fonft vorkommt,
war diefe pfychifche Evolution bei Dürer von einer körper-
lichen Erkrankung begleitet.
Die Art, wie uns Dürer, deffen zarter Körper nachmals
von vielen Leiden heimgefucht war, von diefer feiner erften
Krankheit berichtet, giebt uns auch einen Schlüffel zu der
Epoche feiner Blüthezeit. Irn Britifchen Mufeum befindet
{ich nämlich eine Kohlezeichnung: der Kopf des todten
Heilandes mit der Dornenkrone, mit geöffnetem Munde und
gefchloffenen Augen, ftark verkürzt von unten gefehen, und
von entfetzlichem Schmerzensausdrucke. Wohlerhalten ift
das Monogramm mit der Jahreszahl 1503, darunter fehr ver-
wifcht die Infchrift: wD angeficht hab ich gemacht
in meiner kranckheita. Aus der eigenen Schmerzempfmdung
heraus fucht Dürer hier nach dem Ausdrucke des leidenden
Chriftus; es ift ein entfchiedener Schritt zur bewegten Seelen-
malerei, zur Dramatik der Gefichtszüge; ein offenes Bekennt-
nifs zu jenem Realismus, der das Höchfte, das Göttliche doch
nur in der ganzen, wahren Menfchlichkeit begreift. Nach